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Michelangelo drehte sich auf dem Absatz um und stürmte die Treppen hinunter. Was hatte er hier zu suchen gehabt?, schalt er sich. Es geschah ihm recht. Wie konnte er nur die wenige Zeit, die Gott ihm schenkte, an diesen Ort der Eitelkeit verschwenden? Seit langer Zeit war er im tiefsten Inneren davon überzeugt, dass er sich im Leben beeilen musste, weil er kein hohes Alter erreichen würde. Bald, in nicht allzu ferner Zukunft schon, würde ihn der Tod holen. Bei seiner schwachen Gesundheit wäre es ohnehin ein Wunder, wenn er die vierzig erreichen sollte. Mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge trat er auf die Straße hinaus und lenkte seine Schritte mitten hinein in die Finsternis.

Er hatte gerade die gegenüberliegende Straßenseite erreicht, als er hinter sich eine Stimme vernahm: »Wartet, Messèr Michelangelo, wartet!« Er blieb stehen und wandte sich um.

Er kannte die Stimme – sie gehörte dem jungen, heiseren Tenor, der nun in der Kühle der Nacht allein vor dem von Fackeln erleuchteten Palazzo der Petronilla stand. Über einem Paar trostloser Augen wies eine kräftige Nase auf einen kleinen Mund mit verhältnismäßig vollen Lippen. Die Wangen glühten, entweder hatte er getrunken oder fieberte oder hatte sie nur geschminkt, wie es die Lustknaben gern taten.

»Nehmt mich mit. Ich will Euch auch nicht zur Last fallen, sondern ehrlich dienen.«

»Warum mir?«

»Ich weiß es nicht. Mein Genius sagt es mir.«

Michelangelo musterte ihn spöttisch. »Soso, dein Genius. Und hat dir dein Genius auch gesagt, dass es bei mir nichts zu holen gibt außer Hungerbeulen und Schwielen?«

»Ich habe Eure Pietà gesehen.«

»Schmeichle mir nicht, du Schuft!«

»Ich will kein Geld! Nehmt mich auf, ernährt mich, und Ihr sollt es nicht bereuen!«

Michelangelo dachte nach, wurde aber nicht schlau aus dem hübschen Kerl. »Wie heißt du?«

»Man nennt mich das Französlein, wegen der schlimmen Krankheit, die ich überstanden habe.«

»Und wie soll ich dich nennen?«

»Französlein.«

»Also gut, Francesco, aber warum?«

»Weil ich immer daran erinnert werden möchte, dass Gott mir die Franzosenkrankheit gesandt hat, damit ich dem unsittlichen Lebenswandel entsage!«

»Und was verhalf dir zu dieser Einsicht?«

»Eure Pietà eben, Maestro!«

Michelangelo fuhr zusammen, schlug die Augen nieder und dachte einen Moment lang nach. Wenn es stimmte, was der Junge sagte, dann hatte dieser ihm etwas voraus – er hatte zumindest sein Leben geändert. Darüber durfte er nicht gleichgültig hinweggehen.

»Komm«, sagte Michelangelo knapp, drehte sich um und schritt die Straße entlang. Ein wenig wunderte er sich doch über sich selbst. Es war nur allzu wahrscheinlich, dass hier ein durchtriebener Kerl ihm einen gewaltigen Bären aufband und seinen Schabernack mit ihm trieb. Andererseits, was riskierte er schon? Einen Diener konnte er in der Tat gebrauchen.

Rasch eilte der junge Mann ihm nach und schwieg für den Rest des Weges.

14

Rom, Anno Domini 1505

Die Aprilsonne brannte auf Rom nieder wie das Feuer des Leibhaftigen in der Hölle. Wie sollte da erst der Sommer werden, wenn schon der Frühling mit solch mörderischen Temperaturen aufwartete? Man hatte die Fensterläden geschlossen, um die Hitze aus dem Saal fernzuhalten. So blieb es erträglich, wenngleich der Schatten, der wie eine Schicht gerupfter grauer Daunen über allem lag, bei vielen der Anwesenden eine gewisse Schläfrigkeit weckte, die von den zwar leidenschaftlich vorgetragenen, aber langatmigen Ausführungen des Architekten Frà Giovanni Giocondo noch befördert wurde.

Selbst der Kardinal Catalano kämpfte mit der Müdigkeit. Dabei war er es gewesen, der den Ordensbruder und berühmten Architekten, der gerade als Baumeister der Kathedrale Notre-Dame de Paris im Dienste des Königs von Frankreich stand, gedrängt hatte nach Rom zu kommen, um den Bauzustand des Petersdomes zu untersuchen.

Ebenso eindringlich wie ausführlich legte der hochgewachsene, feingliedrige Architektenmönch mit den aristokratischen Gesichtszügen der Kommission seine Erkenntnisse dar. Die Kommission bestand aus Bauunternehmern wie Baccio di Biggi und den Klerikern der Fabbrica di San Pietro. Laut Frà Giocondo war der Petersdom eigentlich eine Ruine, die dringend der Erneuerung bedurfte, wenn sie nicht einstürzen sollte.

»Nicht mehr lange«, rief er mit vor Empörung bebender Stimme, »und es wird über den Altar Petri hereinregnen. Und wenn das Wasser erst seinen Weg gefunden hat, wird es nicht mehr lange dauern, bis die aus dem Lot geratenen Wände bröckeln. Es ist eine Schande! Die Gläubigen können sich nur noch auf den Schutz Gottes, nicht mehr auf die Sicherheit des Bauwerks verlassen.«

Er hatte kaum geendet, als ein Priester des Domes, von seiner Mozetta umflattert, atemlos in den Beratungssaal stürzte.

»Schnell, kommt mit mir, Eminenz, ein Unglück, ein furchtbares Unglück!«

Der Mann war bleich, und der Schrecken stand ihm ins Gesicht geschrieben. Kardinal Catalano erhob sich und folgte dem Priester; die anderen Anwesenden schlossen sich den beiden an. Bereits im Vorhof mussten sie sich durch eine Ansammlung von Menschen kämpfen. Giacomo, der auch als Kardinal seine schlichte Dominikanerkutte trug, stieß jeden, der ihm den Weg versperrte, unsanft zur Seite.

In der Mitte des Hofes hatte sich ein Kreis aus heftig diskutierenden Menschen gebildet. Giacomo fuhr zusammen, als sein Blick auf einen dürren Mann unbestimmbaren Alters fiel, der nur mit einem Lendenschurz bekleidet war. Der schmutzige Kerl war auf seinen geliebten Pinienapfel gestiegen! Die nach oben verdrehten braunen Augen des Mannes glänzten, und obwohl seine Stimme wie Ziegengemecker klang, besaß sie doch eine Eindringlichkeit, die die vielen Menschen zwang, ihr zu lauschen.

»Deshalb rufe ich, ihr Großen, Papst, du, und ihr Kardinäle, kehrt um, kehrt um, und tut Buße«, ereiferte sich der Mann. »Verachtet die Bilder aus Farben und Stein. Lasst ab von der Fleischeslust. Seid arm wie Christus. Sonst wird der ganze Dom ebenso über euren Häuptern zusammenbrechen wie heute die Kapelle! Ein Riss wird vom Dach aus durch die Mauern, durch die Fußböden, durch die ganze Erde gehen und sie spalten. Und aus dem Abgrund werden die Würgeengel des Teufels klettern, um euch zu schlagen, zu stäupen, zu vierteilen. Und es wird kein Frieden sein, und herfallen werden die Menschen übereinander. Ein jeder wird sich auf Gott berufen, aber den Teufel im Herzen haben. Und es wird keine Ruhe und keinen Frieden mehr geben. Söhne werden ihre Väter erschlagen und bei ihren Müttern liegen. Mütter werden ihre Kinder fressen und ihre Liebhaber säugen …«

Angewidert wandte sich Giacomo ab. Ein verrückter Volksprediger – von dieser Sorte gab es mehr als genug. Sie zogen durch ganz Italien und redeten sich in Trance. Und den Unfug, der aus ihren Mündern quoll, hielten sie selbst und viele ihrer Zuhörer für Prophezeiungen. Hin und wieder konnte man einen dieser schmutzigen Wanderprediger verbrennen, wenn er zu weit gegangen war. Doch das schaffte nur wenig Abhilfe, denn schon bald nahm ein anderer, der sich berufen fühlte, seine Stelle ein. Giacomo nahm ihre ganze zur Schau gestellte Frömmigkeit für verquere Eitelkeit und empfand die Wanderprediger als Landplage. Sobald sich die Menge verlaufen hätte, würde er Anweisung geben, den Mann zu ergreifen und nach einer ordentlichen Tracht Prügel unter Androhung des Todes der Stadt zu verweisen.

Rasch wandte er seine Schritte zum Dom und stand bald darauf im linken Seitenschiff vor der Gregorkapelle. Dies war nicht nur die letzte Ruhestätte seines Freundes Francesco Todeschini Piccolomini, Papst Pius III., sowie dessen Onkel Pius II. Hier befand sich im Hauptaltar auch der Tabernakel mit dem Haupt des heiligen Andreas.