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Das Deckengewölbe, aus dem sich offensichtlich der Schlussstein gelöst hatte, war eingestürzt und hatte einige Pilger unter seiner steinernen Last begraben. Bestürzt blickte der Kardinal auf den Haufen Schutt und Steine, aus dem staubige Arme, Beine, Füße und Köpfe herausragten. Selbst das ausströmende Blut war von einer Staubschicht bedeckt. Der ätzende Geruch trockenen Mörtels drang in seine Nase und reizte ihn zum Niesen.

Giacomo sank auf die Knie und begann, laut zu beten. Er konnte nicht mehr tun, denn es waren genügend Helfer am Werk, die sich mühten, die Unglücklichen zu bergen. Vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung, dass einige von ihnen überlebt hatten. Er sprach eine beeindruckende Fürbitte, in die immer mehr Menschen einfielen. Das vielstimmige Gebet schwang sich hinauf zum Obergaden des Domes.

Plötzlich nahm er wahr, dass die Menschen hinter ihm nacheinander verstummten. Scharrende Tritte und Gemurmel drangen an sein Ohr. Er wandte sich um. Die Pilger waren zur Seite getreten und hatten eine Gasse gebildet, durch die Julius II. auf die Kapelle zuschritt. Die Sonne, die durch die Fenster im Obergaden in das Kircheninnere schien, fiel auf sein sorgenvolles Gesicht und ließ die weißen Haare um den Pileolus aufleuchten. Kniend wandte sich Giacomo dem Pontifex zu.

»Erhebe dich, mein Sohn«, sagte Julius. Als sein Blick das ganze Ausmaß der Tragödie erfasst hatte, fügte er tonlos hinzu: »Welch ein Unglück!«

Die Helfer hatten die Steine beiseitegeschafft. Zwei Männer und drei Frauen lagen mit zertrümmerten Schädeln und Knochen am Boden der Kapelle – niemand hatte überlebt. Der Papst kniete vor ihnen nieder, und alle Anwesenden folgten seinem Beispiel. Mit fester Stimme sprach Julius II. die getöteten Pilger von ihren Sünden los und segnete sie. Dann erhob er sich.

»Was sagst du dazu, Erzpriester?«, fragte er Giacomo.

»Ein Unglück, schlimm. Aber nicht das letzte, wenn wir nicht handeln«, erwiderte der Kardinal. »Ich habe Frà Giocondo gebeten, ein Gutachten zu erstellen.«

Freundlich begrüßte Julius den Mönch und bat ihn, ihm Bericht zu erstatten. Dieser Aufforderung folgte der Architektenmönch, wie Giacomo bedauernd feststellte, in seiner gewöhnlichen, unendliche Geduld erheischenden Langatmigkeit. Und wenn Julius eines nicht zu Gebote stand, so war es Langmut. Erst wurde er unruhig, dann unwillig, und schließlich unterbrach er den Mönch, der sich noch mitten in der Vorrede befand: »Danke, mein Freund. Schreibe all das für Uns auf.«

Dann wandte er sich an Giacomo und funkelte ihn an. »Wir könnten Kosten und Mühen sparen, mein lieber Erzpriester, wenn wir uns künftig besser abstimmen. Ich hatte bereits Unseren neuen Architekten, Messèr Donato, mit einem Gutachten beauftragt.«

Auf seinen Wink trat Bramante vor. Giacomo hatte Mühe, sich sein Erschrecken nicht anmerken zu lassen: Dies war der Mann, mit dem er damals im Haus von Pico della Mirandola gekämpft hatte. Still richtete er ein Gebet an die Jungfrau Maria, dass ihn Bramante seinerseits nicht erkennen würde.

»Es wäre mir eine Freude, Euch kennenzulernen, Eminenz, wenn nur nicht der Anlass ein so trauriger wäre«, sagte der neue Baumeister und verneigte sich vor ihm.

»Wahr gesprochen«, entgegnete der Kardinal. Nur langsam wich seine Furcht der Erleichterung. Bramante schien keinen Verdacht zu schöpfen.

»Der Artigkeiten sind genug gewechselt. Was hast du herausgefunden?«, fragte Julius drängend.

»Nun, Heiliger Vater, der Petersdom ist baufällig.«

»Das ist offensichtlich«, warf Frà Giocondo ein.

Die beiden Architekten maßen sich mit feindseligem Blick. Ach, diese eitlen Künstler, dachte Giacomo, sie können niemanden neben sich dulden.

»Das Offensichtliche ist nicht das, was repariert werden muss«, konterte Bramante.

»Mein lieber Donato, das ist, Ihr wisst es, banal«, parierte der feine Mönch den Schlag.

»Genug. Für derlei Detaildiskussionen fehlt uns die Zeit. Der Heilige Vater hat die Besitztümer des heiligen Petrus zu verteidigen, in die reißende Wölfe eingefallen sind. Frà Giocondo, reiche dein Gutachten bei uns ein, und du, Donato, erarbeitest einen Plan, in welchem Umfang und in welcher Reihenfolge die Restaurierungsarbeiten vorgenommen werden müssen. Schone dabei Unsere Schatulle, die seit der Misswirtschaft dieses Borgia leer ist.«

Mit diesen Worten wandte sich Julius um und verließ den Petersdom durch das Spalier der knienden Menschen.

Teil II –

Das Fest der Götter

Weder Rom noch Italien

noch der Erdkreis werden etwas haben,

was den Neubau übertrifft,

sei es an Pracht und Aufwand,

sei es an Dimension.

Egidio da Viterbo

15

Rom, Anno Domini 1505

Die Mondsichel spiegelte sich im ruhigen Wasser des Tibers, als Bramante sich in der Nacht in seinen Mantel hüllte und auf den Weg nach Trastevere machte.

Über einen mehr als verschlungenen Pfad war es ihm endlich gelungen, ein geheimes Treffen mit dem jüdischen Arzt und Gelehrten Bonet de Lates zu vereinbaren, einem Mann, der als ebenso scheu wie weise galt. Man hatte Bramante wissen lassen, dass er sich am 20. Oktober kurz nach Mitternacht in der Synagoge an der Porta Portese einfinden sollte, wenn ihm tatsächlich etwas an einer Begegnung lag, die er natürlich geheim halten musste. Zufällig fiel die Verabredung mit seinem Geburtstag zusammen – wenn das in diesen unsicheren Tagen kein gutes Omen war! Da er mit einem Bischof zu Abend gespeist hatte, durchquerte er auf dem Weg nach Trastevere den Borgo.

Eine eigentümliche Stimmung überkam ihn, als er durch die meist leeren, dunklen Gassen schritt, die tagsüber von geschäftigem Treiben erfüllt waren. Er zählte nun neunundfünfzig Jahre und hatte noch immer nicht das große Werk vollbracht, für das er sich ausersehen dünkte. Die Fedeli waren tot oder in alle Winde zerstreut, der Bund existierte praktisch nicht mehr, und die sterblichen Überreste seines Freundes Pico della Mirandola ruhten nun schon seit fast zehn Jahren im Konvent der Dominikaner von San Marco in Florenz. Auch seine Suche nach dem Mörder, mal mit Eifer, dann wieder nachlässig betrieben, war bisher ergebnislos verlaufen.

So harrten beide Schwüre – Rache zu nehmen und im Geiste Picos einen Bau zu errichten, der alles bis dahin Geschaffene in den Schatten stellte – immer noch ihrer Erfüllung. Hatte der Tod den großen gräflichen Gelehrten daran gehindert, in einer wunderbaren Schau das gesamte Wissen der Menschen zu versammeln, so wollte Bramante dieses Buch sozusagen in Stein schreiben, ein Bauwerk schaffen, das die Architektur des menschlichen Glaubens veranschaulichte, denn das Wissen war nur ein Teil des Glaubens. Manchmal wachte er mitten in der Nacht auf, und die Angst, dass auch ihm der Tod zuvorkommen könnte, nahm ihm fast den Atem.

In der Synagoge an der Porta Portese versammelten sich die alteingesessenen Geschlechter der Juden von Trastevere. In diesem Winkel der Stadt schien sich Bonet sicher zu fühlen, denn das Viertel hatte mit der übrigen Stadt nicht allzu viel gemein: Es war ein eigener Kosmos mit eigenen Gesetzen, einem eigenen popolo und eigenen Patronen. Wild, archaisch und unbotmäßig.

Die Gegend, die er nun durchquerte, war ihm noch nie geheuer gewesen. Sein Weg führte vorbei an Ruinen und unbewohnten Grundstücken, in denen von jeher zwielichtiges Gesindel Unterschlupf fand. Deshalb hatte er sich gut bewaffnet. Angst hatte er nicht – was konnte der Mensch gegen den Spruch der Parzen ausrichten, wenn schon die Götter sich vor ihnen duckten? Für Bramante war alles, was eintreffen würde, bereits im Himmel aufgezeichnet – auch, dass sein Leben in der Existenz des Architekten vollkommen aufging. Und wenn im Himmel beschlossen war, dass sein Lebensfaden an diesem Tag von der Spindel der allmächtigen Zeit abgeschnitten würde, gab es keinen Ort auf dieser Welt, der ihn vor dieser Bestimmung bewahren, und keine Kraft, die das verhindern konnte. Dem Tod entging man nicht, deshalb half es auch nicht, sich zur Flucht zu wenden. Hin und wieder jedoch war der Tod feige oder faul und wollte einfach den Nächstbesten mitnehmen. Wenn man sich ihm dann beherzt entgegenstellte, konnte es womöglich geschehen, dass er Reißaus nahm und man ihm entkam.