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Lauernd wie Räuber und Diebsgesindel duckten sich die Häuser in den Schutz der Dunkelheit. Nur dann und wann ragte aus den Häuschen der armen Handwerker oder kleinen Händler und aus den Unterkünften, deren Besitzer weiß Gott welchem Nebenerwerb nachgingen, ein Geschlechterturm wie ein Wächter heraus. Bramante passierte den Turm der Grafen von Anguillara und den der Pierleoni. Dann stand er endlich vor der düsteren Synagoge.

Der Oktobermond hatte sich hinter einer Wolke verborgen. Bramante schwitzte und stöhnte. Die Füße schmerzten ihn. Sie waren an solch lange Fußmärsche nicht gewöhnt und zudem für seinen mächtigen Körper einfach zu zierlich geraten. Er öffnete die Tür der Synagoge nur einen Spalt weit und schob sich hinein.

Der leise Gesang eines vollen Basses drang an sein Ohr. Die Wände schienen durch den Schall in Vibration zu geraten, als brächten die gesungenen Silben die Steine zum Tanzen. Bramante führte diesen seltsamen Eindruck auf seine überreizten Nerven zurück. Er verstand nicht, worum es in dem Lied ging, denn der Sänger benutzte jene Sprache, die so geheimnisvoll klang, so fremd und exotisch und die er für die Sprache des Alten Testamentes hielt. Auch wenn er nichts verstand, ja, aus den fließenden Akzentuierungen nicht einmal einzelne Worte zu unterscheiden vermochte, folgte er der Stimme. Sie führte ihn durch einen langen Gang zu einer geöffneten Tür. Es roch nach Myrrhe und Weihrauch. Bramante betrat den Saal, den der siebenarmige Leuchter mit seinen sechs Kerzen nicht ganz ausleuchtete.

»… schma jisrael adonai elohenu adonai echad …«

Mit dem Rücken zu ihm stand ein schlanker Mann mit rötlichen Haaren und einem kupferroten Vollbart. Er wirkte jünger, als er war, und trug eine Strumpfhose, geschlitzte Überhosen und ein Wams. Seine Kleidung unterschied sich nicht von der Bramantes, außer dass er eine Art Kappe auf dem Kopf trug, die den Architekten an das Pileolus des Papstes erinnerte.

Als er ihn entdeckte, verstummte der Sänger. »Bedeckt Euer Haupt!«, sagte er streng. »Ihr seid im Allerheiligsten! Respektiert das – auch wenn es nicht Euer Glaube ist!«

Bramante zog sein Wams aus und hängte es sich über den Kopf, sodass es bis zur Schulter hinunterfiel. Dieser Anblick erzeugte bei seinem Gegenüber ein Lächeln.

»Messèr Bonet de Lates?«, fragte Bramante, den belustigten Blick aus den tief liegenden Augen ignorierend.

»Wer sonst! Folgt mir!« Dem Akzent nach musste dieser Jude aus Frankreich stammen.

Ohne ein weiteres Wort der Erklärung griff der Rabbiner nach einer Öllampe, verließ durch eine Tür den Betraum und führte Bramante einen langen Flur entlang zu einem kleinen Zimmer. Mithilfe der brennenden Öllampe entzündete er weitere Lichter und Kerzen, sodass der Raum bald hell erstrahlte.

»Ihr könnt Eure Kippa nun absetzen«, sagte der Jude, und Bramante streifte das Wams vom Kopf. »Womit kann ich Euch dienen?«

Der Architekt zog den Ring ab, den er von einem Juwelier auf den Umfang seines mächtigen Ringfingers hatte weiten lassen, und legte ihn auf den Tisch. Bonets Augen hefteten sich auf das Schmuckstück. Er begann, den Ring sorgfältig zu untersuchen, hob ihn gegen das Licht und erkannte das Monogramm in dem blauen Stein. Ein Lächeln huschte über seine Lippen.

»Woher habt Ihr den Ring?«

»Von einem Toten.«

»Wisst Ihr, wem er gehört hat?«

»Seinem Mörder.«

Bonet zuckte zusammen. »Wer ist der Tote?«

»Graf Giovanni Pico della Mirandola.«

»Der Princeps Concordiae!« Ein Stöhnen entrang sich der Brust des Juden. »Und Ihr kennt seinen Mörder?«

»Ich hoffe, dass der Ring mich zu dem Schurken führt. Ich will ihm endlich die Kehle durchschneiden für das, was er dem armen Grafen angetan hat. Was bedeutet das Monogramm?«

»Es ist ein Ring, der vom Vater an den Sohn weitergegeben wird. An denjenigen seiner Söhne – so er deren mehrere hat –, den er verantwortlich macht für die Erhaltung des Geschlechts. Er beglaubigt damit die Herkunft der Familie aus den glücklicheren Tagen in Eretz Israel. Also vor der Vertreibung und Zerstreuung. In diesem Fall leitet sich die Familie vom Stamm Levi her.«

»Der Mann heißt also Levi?«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Das spielt keine Rolle. Es geht um etwas vollkommen anderes. Ihr wisst, was den Stamm Levi von den übrigen elf Stämmen Israels unterscheidet?«

Bramante schüttelte den Kopf. Er kannte sich mit den Juden nicht aus, hatte sich auch nie dafür interessiert. Und wollte es verdammt noch mal auch nicht! Pico zumindest schien die-se Beschäftigung das Leben gekostet zu haben. Hatten ihn etwa die Juden ermordet, obwohl er für sie eingetreten war? Es klang widersinnig, gewiss, aber sie hatten ja wohl auch den Heiland, ihren Messias, gekreuzigt. Wer kannte sich schon mit ihnen aus?

Doch Bonet, den der Ring offensichtlich beeindruckte, ließ ihm keine Zeit zum Nachdenken, sondern sprach bereits weiter. »Gott hatte allen Stämmen, Dan und Simeon, Manasse und Juda und wie sie alle heißen, Land gegeben, nur dem Stamm Levi nicht. Der sollte die Tempelabgaben erhalten. So wurden seine Söhne zu Priestern. Die Kohanim!«

»Der, dem der Ring gehört, stammt also aus einer Familie von Priestern?«

»Oder ist zumindest stolz auf seine Zugehörigkeit zu den Leviten.«

Bramante nahm den Ring an sich, öffnete den kleinen Mechanismus und reichte das Schmuckstück vorsichtig dem Rabbiner. Dieser schmunzelte, als hätte er nichts anderes erwartet, und entnahm dem Fach den Pergamentfetzen.

»Wahrscheinlich ein Familiensegen, wie üblich. Dann sollten wir den Sippennamen seines Besitzers gleich haben.«

Bramante überfuhr ein freudiger Schauer: Endlich würde er erfahren, wer seinen Freund auf dem Gewissen hatte. Sorgsam breitete Bonet das Pergamentstück auf dem Tisch aus und strich es vorsichtig mit den Handkanten von der Mitte nach außen glatt.

»Angenehm, wie eine zweite Haut«, sagte er beifällig. »Ziegenleder.«

Er nahm einen schweren, kunstvoll geschliffenen Beryll, um die Schrift zu vergrößern, und begann mit der Entzifferung der Miniatur. Er schrieb Wörter auf ein Stück Papier, strich sie durch, notierte andere Wörter oder verbesserte sie. Bramante war kaum in der Lage, seine Unruhe zu zügeln, und stapfte hin und her. Ab und zu zog Bonet Bücher zurate, trommelte beim Nachdenken mit dem Mittelfinger auf die Tischplatte und vertiefte sich erneut in den Text. Die Zeit dehnte sich, und Bramante fühlte sich von der Neugier wie auf eine Streckbank geflochten. Es kam ihm vor, als habe der Jude ihn vergessen.

Nach einer halben Ewigkeit faltete Bonet das Pergamentchen endlich wieder sorgsam zusammen, legte es in den Ring zurück, verschloss diesen und reichte ihn Bramante.

»Verzeiht, aber ich werde nicht recht schlau aus dem, was da steht«, sagte er. Der Architekt spürte, wie ihn die Enttäuschung übermannte. »Verfasst ist die Botschaft in Arabisch«, fuhr Bonet fort, »so viel ist sicher. Ich kann es zwar übersetzen, aber ich verstehe es nicht.«

»Wie, Ihr versteht es nicht?«

»Das heißt, dass der Sinn dieser Worte mir verschlossen bleibt.«

»Was steht denn nun da?«, fragte Bramante ungeduldig.