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»Etwa das.« Der Gelehrte nahm das Blatt und las im fragenden Tonfall vor: »Betrachte durch mich den Kosmos, wie er vor deinen Augen – man könnte es auch übersetzen mit: den Fenstern deiner Seele – liegt, und begreife genau seine Schönheit: Er ist ein unversehrter Körper, und nichts wird je älter sein als er, und dennoch steht er in allem in der Blüte seiner Kraft, ist jung und blüht über und über. Sieh auch die liegenden sieben Welten, deren Ordnung in ewig gültiger Weise geregelt ist und die in ihrem unterschiedlichen Lauf den Äon ausmachen; alles … ist nun voller Licht geworden, das von oben eine Leuchtkraft bekommt von der Wirkkraft Gottes, des Erzeugers von allem Guten und aller Ordnung der sieben … Welten oder Ordnungen, vielleicht auch Äonen, nehme ich an.«

»Könnt Ihr mir das geben?«, fragte Bramante und wies auf die Notizen des Gelehrten. Ohne darauf zu antworten, nahm Bonet ein neues Blatt Papier und schrieb seine Krakel noch einmal leserlich ab. Dann reichte er es Bramante, der es faltete und in der Tasche seines Wamses verschwinden ließ.

»Was bedeutet das alles?«, fragte der Architekt kopfschüttelnd.

»Wie gesagt, ich weiß es nicht. Wirklich nicht. So viel aber ist sicher: Es klingt nach einem alten Text, den ich aber nicht kenne.«

»Aus der Kabbala?« Bramante kannte das Buch über die Weltgeheimnisse nicht, doch er hatte durch Pico von dem Werk erfahren. Er brachte den Titel zur Sprache, wie man einen Stein ins Wasser schleudert, um zu sehen, welche Wellen er schlägt.

»Nein! Keinesfalls!«, wehrte Bonet entschieden ab. »Der Text stammt nicht aus dem Umkreis der Kabbala. Vielleicht von frühen christlichen Ketzern? Gnostikern? Mani? Valentinus? Bedaure, die Irrtümer der Christen sind nicht mein Fach!«

»Ungewöhnlich für einen Juden, oder?«

»Beunruhigend ungewöhnlich, mon ami! Ring und Pergament gehören irgendwie nicht zusammen. Aber wer weiß das schon. Jesus war ja auch ein Jude und dann dies …«

Mit »dies« meinte er vermutlich das Christentum, dachte Bramante leicht belustigt. Doch der Rabbiner verzichtete darauf, seinen gefährlichen Gedanken, den die Kirche als Frevel auffassen konnte, zu Ende zu führen.

Bramante griff nach einem Blatt Papier, zeichnete darauf mit der Feder den Ring in vier Ansichten und reichte es dem Gelehrten. »Könntet Ihr dennoch in den jüdischen Gemeinden Erkundigungen einziehen, ob jemand den Ring kennt?«

Bonet sah ihn abweisend an.

»Bitte!«

Es war zu sehen, wie der Rabbiner mit sich rang.

»Für den Princeps Concordiae, der Eurem Volk eine so große Ehrerbietung entgegenbrachte! Sein Tod darf nicht ungesühnt bleiben. Heißt es nicht bei Mose: ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹?«

»Es heißt bei Mose aber auch: ›Du sollst nicht töten‹, und der Herr spricht: ›Mein ist die Rache, ich will vergelten …‹«, sagte Bonet de Lates. Dann unterbrach er sich und willigte ein: »Also gut. Aber es kann dauern.« Widerwillig nahm er die Zeichnung entgegen.

Ein erleichtertes Lächeln flog über Bramantes Gesicht. Dann zog er das Buch hervor und legte es auf den Tisch. »Ich habe da noch etwas. Leider auch sehr geheimnisvoll.«

Der Anblick der Titelseite amüsierte den Juden. »Dantes ›Göttliche Komödie‹, vom guten Landino kommentiert. Was ist daran geheimnisvoll, mal abgesehen davon, dass die Dichtung voller Mysterien steckt?«

»Schaut Euch den hinteren Teil an. Ein zweites Buch wurde mit in den Einband gebunden!«

Bonet blätterte und warf einen neugierigen Blick auf die Handschrift. So rasch sein Interesse aufgeflammt war, erlosch es auch schon wieder.

»Verschlossen ist das nur für den, der nicht lesen kann. Das ist einer der vielen Kommentare zur Kabbala. Nichts Besonderes«, sagte er gelangweilt, ja fast beleidigt.

Bramante schlug eilig die Seite auf, auf der sich die Zeichnung mit den vielen Kreisen, Linien und Worten befand und hielt das Buch dem Rabbiner unter die Nase.

»Sieht beeindruckend aus, wenn man kein Hebräisch versteht, nicht wahr?«, sagte Bonet und grinste spöttisch. »Das ist der Etz Chaim, der Lebensbaum der Kabbala, der uns die Wirklichkeiten der Schöpfung darstellt, wie sie im Sefer Jesira benannt sind. Eine Art Verkündigungs-, Abendmahls- und Kreuzigungsbild für Juden. Dieses Schema erklärt das Dasein und den Weg der Schöpfung. Was Ihr hier seht, sind die Pforten des Lichts.«

»Aha«, meinte Bramante trocken. Dann zeigte er fragend auf die drei Säulen, die scheinbar die Basis oder das Fundament der Schöpfung darstellten.

»Rechts und links des salomonischen Tempels und als Basis des Lebensbaumes stehen die beiden Säulen Jachin und Boas. Boas bedeutet: In Gott ist Stärke, und Jachin verheißt ›die Milde‹. Das heißt, Gott wird die Säulen der Barmherzigkeit aufrichten. Sie stehen ganz in der Welt des Handelns, der Assia.«

»Und was bedeutet dieser Kreis hier inmitten der Vierung?«

»Was Ihr Vierung nennt, symbolisiert die vier Erzengel.«

»Aber was ist das in der Mitte?«

»Die Schönheit.«

»Die Schönheit?«

»Ja. Oder der Stellvertreter.«

Bramante wurde blass. »In der Mitte ist der Stellvertreter?«

»Ja. Er gehört ganz der Welt der Kreation an, der Briah.«

»Seid Ihr sicher? Seid Ihr wirklich sicher, dass in der Mitte der Stellvertreter steht?« Bramante wollte den Rabbiner schon bei den Schultern packen und durchschütteln, konnte sich aber gerade noch beherrschen.

»Nichts ist gewisser als dies.«

»Nichts ist gewisser als dies«, wiederholte Bramante nachdenklich und starrte wieder auf die Illustration. »Und die Säulen hier gehören zum Tempel des Königs Salomo, den Hiram errichtet hat? Jachin und Boas?«

»Natürlich, was sonst.«

»Dann kann man den Lebensbaum also auch als Grundriss des perfekten Tempels deuten?«

Bonet verstand offensichtlich die Begeisterung des Architekten nicht, zumal er nach alter Tradition in Worten und nicht in Bildern, in Gebäuden aus Buchstaben und nicht aus Stein und Zement dachte. Er zuckte nur mit den Schultern. »Ihr könnt es halten, wofür Ihr wollt.«

Bramante kümmerte sich nicht mehr um den Juden. Er konnte es mit jeder Faser seines Körpers fühlen: Vor ihm lag der göttliche Bauplan – das, was die Fedeli d’Amore, allen voran Pico, immer gesucht hatten. Er wunderte sich, mehr noch, er vermochte es kaum zu fassen! Gott war ein Schalk. Das Geheimnis lag so unverschämt offen da, so vor aller Augen, und doch hatte es keiner vor ihm entdeckt. Nicht einmal Pico, der das Buch besessen und gewiss auch studiert hatte – aber der Philosoph hatte nicht den Blick des Architekten.

Alles passte zusammen! Bramante war, als gäbe der Boden unter ihm nach. Vor ihm lag der Grundriss des perfekten Bauwerks, Gottes Architekturzeichnung, nach der jener biblische Baumeister namens Hiram im Auftrag des Königs Salomo den Tempel zu Jerusalem errichtet hatte.

Geistlich stammten alle Religionen aus dem Alten Testament: das Judentum, das Christentum, der Islam. So hatte es Pico ihn gelehrt und daraus geschlossen, dass die Offenbarungen aller Religionen grundsätzlich den gleichen Wahrheitswert besäßen. Für die Architektur bedeutete das aber, dass alle Kirchenbauten aller Religionen sich von diesem Tempel ableiteten, ohne dass irgendeine Kirche, eine Moschee oder Synagoge die Perfektion des salomonischen Tempels zu erreichen vermochte. Das Wissen über das perfekte Bauen war versteckt und verborgen worden.

Die Templer waren es, auch das hatte Bramante von Pico erfahren, die dieses mystische Wissen vom Kreuzzug mit ins Abendland gebracht hatten. Nach der Vernichtung des Ordens der Mönchskrieger gelang es den Fedeli d’Amore, das Wissen zu bewahren – zumindest in Bruchstücken. Manches ging auch in den Wirren der Verfolgung und des Terrors verloren. Und es fehlte wie ein Schlussstein das entscheidende Element, ohne das es unmöglich blieb, das Wissen zu ordnen und anzuwenden.