Und dennoch – der Gedanke an Michelangelo saß ihm in den Gliedern wie ein hartnäckiger Infekt. Giacomo spürte, dass er einem außergewöhnlichen Menschen begegnet war – talentiert, was er von sich nicht behaupten konnte, und ungeborgen, was er nur zu gut nachzuempfinden vermochte, weil er das Gefühl der Heimatlosigkeit und Verlassenheit kannte. Wie er selbst den Anker im tosenden Sturm des Lebens im Glauben gefunden hatte, so hielt sich Michelangelo an die Kunst. Und wie er die Religion verteidigte, focht jener für die Schönheit. Langsam begriff Giacomo, dass der Florentiner es nicht auf seinen Körper abgesehen hatte, sondern – und das wog weit schwerer – auf seine Seele.
Als er seinen Beichtstuhl erreichte, schloss er einen Moment die Augen und zwang sich zur Ruhe. Dann ließ er in Erwartung des päpstlichen Baumeisters seine Blicke im Dom hin und her wandern. Durch die Fenster im Obergaden brach das Abendlicht und schwebte dem Schein der Kerzen entgegen, um sich mit ihm zu einer magischen Dämmerung zu vereinen.
Zu dieser Zeit, wenn das Licht von außen schwächer wurde und der Kerzenschein in der Kirche an Helligkeit zunahm, gab es für ihn keinen schöneren Ort auf der Welt. Nachtlicht und Menschenlicht verschmolzen wie die Liebenden im Hohelied: »Wer ist, die da erscheint wie das Morgenrot, wie der Mond so schön, strahlend rein wie die Sonne, prächtig wie Himmelsbilder?«, sagte er leise vor sich hin. Nur in jenen Stunden überkam ihn das Gefühl, dann aber mit ganzer Gewalt, dass Gott hier wohnte. Umso behutsamer musste man mit seiner Wohnstätte umgehen. Giacomo konnte den Allmächtigen fühlen, schmecken, riechen, umarmen. Ihn beherrschte nur noch der Wunsch, die Physis abzustreifen, und dann, so verrückt es auch klingen mochte, glaubte er tatsächlich, Gott stofflich wahrnehmen zu können, genau in dem Moment, in dem er die eigene Körperlichkeit abzulegen begonnen hatte. Aber es genügte nicht, denn mochte seine Seele sich auch auf seine Schultern stellen, so wagte sie es letztlich doch nicht, sich von seinem Schlüsselbein, seiner Leiblichkeit abzustoßen und in den Äther aufzusteigen. Einmal hatte ihn sogar das frivole Gefühl übermannt, tanzen zu wollen. Er hatte gehört, dass weit hinten im Morgenland, im Herrschaftsgebiet des Sultans, muslimische Mystiker tanzten, um sich Gott zu nähern. Sie drehten sich immer schneller um die eigene Achse, als schraubten sie sich dadurch aus ihrer Körperlichkeit hinaus und hoch zum Allmächtigen. Es reizte ihn, dies auch einmal zu versuchen, doch die Angst, sich in heidnischen Riten zu verlieren, hielt ihn davon ab.
Nicht die Fallstricke der Frauen fürchtete Giacomo – die der Männer schon gar nicht –, aber jene der Mystik umso mehr. Er hasste die Mystik abgrundtief, weil er ahnte, dass er dafür empfänglich war. Zeigte sich darin sein verdammtes jüdisches Erbteil, das er zu vergessen suchte? Äußerte sich darin seine schwere Sündhaftigkeit, dass er das körperliche Verlangen vertauscht hatte mit den Orgasmen des Geistes?
»Danke, dass Ihr mir erlaubt, bei Euch zu beichten, Frà Giacomo, oder soll ich Eminenz sagen?«, hörte er in seinem Rücken einen Bass erklingen und schrak zusammen.
Aus irgendeinem Grund hatte er nicht damit gerechnet, dass Bramante tatsächlich erscheinen würde. Er hatte ihn nicht vom Eingang her kommen sehen; möglicherweise hielt der Mann sich schon eine ganze Weile in der Peterskirche auf. Hatte er ihn etwa beobachtet? Seine Gedanken gelesen? Die Vorstellung bereitete ihm Unbehagen. Er rang um Fassung und wandte sich um.
»Frà Giacomo ist mir lieber.«
Vor ihm stand der Architekt, der sich unterwürfig gab, was so gar nicht zu ihm passen wollte. Du willst etwas von mir, dachte er, sagte aber nur »Bitte« und wies auf die Beichtkabine. Er würde vorsichtig sein, denn dieses Beichtkind war ein Feind. Er gehörte zu den Fedeli d’Amore. Giacomos Vorteil bestand darin, dass der Architekt nicht einmal argwöhnte, dass er darüber Bescheid wusste.
Bramante zwängte sich in den Holzverschlag, der eine direkte Verbindung zu Gott besitzen sollte. Das Fußende der Gnade. Der Dominikaner setzte sich, wie es vorgesehen war, ihm gegenüber. Sie konnten einander nicht sehen, denn erstens war es dunkel, und zweitens verwehrte ein Gitter aus engen Holzstreben die Sicht. Als Giacomo das Vaterunser betete, blieb ihm nicht verborgen, dass der Baumeister nicht einmal das einfachste Gebet beherrschte. Deshalb fragte er ihn nach einem kühlen »Amen« streng, wann er das letzte Mal gebeichtet habe.
»Lasst uns damit nicht unsere wertvolle Zeit verschwenden.«
»Ihr werdet in der Hölle darüber nachdenken dürfen, ob eine Beichte eine Zeitverschwendung gewesen wäre.«
»Meint Ihr nicht, dass es mehr als einer Beichte bedarf, um das Haus des Apostels Petrus vor heidnischem Bildwerk zu bewahren?«
Heuchler, dachte Giacomo. »Geht es Euch nicht eher darum, einen gefährlichen Konkurrenten auszustechen?«, fragte er.
»Was spielen meine Beweggründe für eine Rolle, wenn es darum geht, ein Sakrileg zu verhindern?« Bramante musste seinen aufflammenden Ärger zügeln.
»Wenn es nicht zu einem größeren Frevel führt, keine!« Der Erzpriester fühlte sich unbehaglich. Es wäre dumm, auf die Unterstützung dieses durchtriebenen Gauners zu verzichten, aber er durfte sich nicht hinters Licht führen und auch nicht benutzen lassen. Er hasste es, aber er hatte keine Wahclass="underline" Er muss-te sich auf das älteste Spiel der Politik einlassen, auf dieses verfluchte Wer-benutzt-Wen. Er konnte Bramantes Grinsen zwar nicht sehen, dafür umso deutlicher spüren.
»Frà Giacomo, keiner von uns beiden will hier den Marmorkoloss mit seinen Nackten. Stellt Euch die vielen spärlich oder gar nicht bekleideten Männerkörper vor, die sich herausfordernd um die Pilaster winden. Was meint Ihr, wie lange es dann noch dauern wird, bis Sankt Peter sich zu einem Wallfahrtsort für all die mausert, die im Zeichen des Gottes Uranus geboren worden sind?«
Giacomo spürte, wie sich das Grinsen des Architekten zu einem spöttischen Feixen steigerte, und begann zu schwitzen. Der Mann war ihm unangenehm, er wollte diese Situation so rasch wie möglich beenden.
»Gut möglich. Was können wir dagegen tun?«
»Wenn wir gegen das Grabmal argumentieren, befördern wir nur seine Errichtung«, begann Bramante. »Julius ist klug, aber er ist nicht gebildet. Er kommt wie ich aus kleinen Verhältnissen. Und wie ich ist er ständig in Sorge, dass ihm einer dieser Gebildeten, dieser Humanisten, mithilfe seiner Bildung eine lange Nase dreht.«
Giacomo stöhnte leise, Bramante kannte den Papst wirklich gut.
»Aber«, fuhr der Architekt fort, »ich habe mir den Westchor angesehen. Warum nutzen wir den Ausbau nicht, um notwendige Reparaturen am Dom vorzunehmen, Instandsetzungen, für die bisher kein Geld da war?«
Damit sprach Bramante dem Erzpriester aus der Seele, denn Sankt Peter war in der Tat baufällig, manche Mauern waren inzwischen über zehn Ellen aus dem Lot geraten und ähnelten eher einem Bogen als einer Wand. Sie bogen sich wie Pappeln im Sturm und konnten jederzeit einstürzen.
»Was kann ich dabei tun?«, fragte Giacomo vorsichtig.
»Zwei Dinge: Schweigt, wenn ich das Mausoleum lobe, und unterstützt mich, wenn ich vorbringe, dass wir Reparaturen am Mauerwerk vornehmen müssen, wenn wir den Westchor bauen und an den Dom anschließen wollen. Dadurch gewinnen wir wertvolle Zeit, bis sich das Vorhaben von selbst erledigt hat, weil der Geist unseres verehrten Papstes sich in ein anderes Projekt verliebt hat.«