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[…] Sie werden nicht zuschanden werden,

wenn sie mit ihren Feinden reden

im Tor.«

Als sie Michelangelo gemeinsam mit dem fassungslosen Francesco auf sein Lager gebettet hatten, sahen sich Giorgio Vasari und Daniele da Volterra mit Tränen in den Augen an. Für die beiden Männer war es, als drohe der Weltuntergang. Inständig hofften sie, dass Michelangelos Leben zu retten sei – noch atmete er, noch war ihre Welt nicht versunken.

Teil I –

Auf der Suche

nach Vollkommenheit

So schreibe alles, was du gesehen hast,

in ein Buch und bewahre es am verborgenen Ort;

und lehre es die Weisen deines Volkes,

von denen du sicher bist,

dass ihre Herzen diese Geheimnisse

fassen und bewahren können.

IV. Buch Esra, Fünftes Gesicht, Vers 37

1

Ravenna, Anno Domini 1492

Den Tag über ritt er wie der Teufel, abends aber rastete er so bequem, wie es irgend ging. Er schlemmte, trank und ließ sich von Dirnen oder Strichjungen, wie es sich gerade traf, den unerträglichen Druck aus den Samensträngen nehmen, als sei er Dionysos leibhaftig, bocksbeinig, mit roten Wangen, violetter Nasenspitze und einem enormen Schwanz. Der Baumeister Donato d’Angelo, genannt Il Bramante – der Begehrende oder auch der Vielfraß –, hätte selbst den Himmel entjungfert, wenn der nicht so weit oben gewesen wäre. Einige hielten ihn für begnadet, andere für ein Tier, was sich nicht unbedingt zu widersprechen brauchte.

Der Reisespiegel aus Murano zeigte ihm einen Mann von Mitte vierzig, untersetzt, in der animalischen Kraft, die er ausstrahlte, an einen Bullen erinnernd, mit einem großen und nur von grau melierten Fransen umkränzten Kopf auf dem kräftigen, aber kurzen Hals.

Von Mailand kommend, hatte Bramante das hügelige Gelände der Lombardei und den Norden der Emilia Romagna mit ihrer lieblichen Landschaft aus Feldern und Weinbergen passiert, immer den Duft von blühendem Lavendel und Rosmarin in der Nase. Eine gute Woche war er bereits unterwegs gewesen, als er am späten Nachmittag die alte Hafenstadt Ravenna erreichte.

Als Malergeselle war Bramante vor über fünfzehn Jahren mit ehrgeizigen Plänen und einer noch größeren Achtung vor seinen Talenten nach Mailand gekommen. Dort hatte er unter dem Schutz des Herzogs seine Leidenschaft für die Baukunst entdeckt. Pinsel, Farbe und Wände genügten seinem Schaffensdrang bald nicht mehr. Was er in die Welt zu setzen gedachte, waren gewaltige Gebäude, Paläste und Kathedralen. Und das Glück war ihm gewogen. Der Baumeister Giovanni Antonio Amadeo nahm ihn unter seine Fittiche, unterwies ihn in seiner Kunst, und der Herzog förderte ihn. An eine Heirat brauchte Bramante allerdings keinen Gedanken zu verschwenden, denn die Häuser der Mailänder Bürger blieben ihm verschlossen. Umso bereitwilliger öffneten die Tavernen und Bordelle dem genusssüchtigen Mann ihre Pforten. An Vergnügungen mangelte es ihm also nicht. Ebenso wenig an anspruchsvollen Freundschaften, denn seit ein paar Jahren lebte auch der Florentiner Leonardo da Vinci in der Stadt, mit dem er einen höchst eigentümlichen Umgang pflegte. Die Mailänder Hofgesellschaft bildete eine viel besprochene Insel im ansonsten recht eintönigen Bürgerleben der Stadt.

Das gewaltige Bauwerk, dem sein ganzer Ehrgeiz galt, hatte Bramante aber noch nicht errichtet. Sein solider Erfolg stand seinem – im Vergleich zu Leonardos Ansehen geradezu zwergenhaften – Ruhm unvorteilhaft gegenüber. Dabei hatte er inzwischen ein Alter erreicht, in dem andere bereits auf ein erfülltes Leben und Werk zurückblickten. Es war also eine gewisse Eile, die ihn in geheimer Mission nach Ravenna trieb, die alte Hafenstadt an der Adria, die einmal die letzte Hauptstadt des Römischen Reiches gewesen war. Hier wollte er endlich den ersehnten großen Ruhm erlangen.

Die Stadt faszinierte ihn auch, weil sie von einem Nebel uralter mythischer Geschichten umgeben war. Zwischen Mailand und Ravenna bestand schon seit frühchristlicher Zeit ein scharfer Gegensatz. Mailand galt als Hauptstadt des Westens, Ravenna als Brückenkopf des Ostens, über den die arianische Ketzerei von Byzanz nach Italien gedrungen war. Noch heute, so erfuhr Bramante hinter vorgehaltener Hand, konnte man in Ravenna eine arianische Kapelle aufsuchen, mit einem nackten Christus, an dem sogar der Penis zu bewundern war. Er hoffte, dass es ihm gelänge, das alte Baptisterium und Christi Schwanz persönlich in Augenschein zu nehmen. Obwohl er keinerlei Sympathie für die Häresie hegte – wie übrigens auch nicht für die Orthodoxie –, erregte die Darstellung dieses Genitals die Neugier des Kenners.

Als Bramante nun durch die engen Gassen von Ravenna ritt, blickte er sich aus Sorge, verfolgt zu werden, mehrmals um. An der Kleidung der Menschen erkannte er aber, dass er weit und breit der einzige Fremde war. In der ockerfarbenen Sonne des späten Nachmittags wirkte alles vollkommen friedlich und harmonisch. Er dachte kurz daran, sich auf einer Bank am Marktplatz niederzulassen und auszuruhen. Doch sein knurrender Magen und der Gedanke an ein üppiges Mahl trieben ihn weiter, und so fragte er sich zur Herberge »Zum tatkräftigen Hiram« durch. Endlich erreichte er das einstöckige Gebäude von Girolamos Gasthof. Es verfügte über einen Pferdestall, wo Bramante den Braunen einem alten Pferdeknecht übergab. Dann betrat er den Gasthof, der einfach, aber reinlich wirkte. Über dem Eingang des Hauses befand sich eine Rosette. Das Licht, das durch sie in den Raum fiel, malte ein vielfarbiges Muster auf den Boden. Rosetten, dachte Bramante, gibt es doch nur in Kirchen. Verwundert sah er sich um. Die Rosette war nicht groß, dennoch erstaunlich. Der Wirt, ein kleiner, lebendiger Mann, der ihn schon eine Weile beobachtet hatte, räusperte sich.

»Schön«, brummte Bramante anerkennend und riss sich vom Anblick der Rosette los.

»Wie kann ich Euch helfen, Messèr?«, fragte der Wirt und musterte den Fremden misstrauisch.

»Ich bin Donato Bramante. Man hat mich angekündigt.«

Die Miene des Wirtes zeigte keine Regung. »Und was hat Euch nach Ravenna verschlagen?«

Bramante wusste, dass er eine bestimmte Antwort geben musste. »Die Suche nach dem Stein, den die Baumeister verworfen haben«, sagte er und versuchte, ein Lächeln zu verbergen.

»Wodurch könnte der nach so langer Zeit gefunden werden?«, fragte der Wirt.

»Nur durch Liebe«, entgegnete Bramante und bemühte sich sehr, seinem Gesicht ein ernstes Aussehen zu verleihen, damit sein Gegenüber nicht all die körperlichen Vorstellungen bemerkte, die ihm bei dem Wort »Liebe« durch den Kopf huschten. Es gelang ihm leidlich.

Augenblicklich taute der Wirt auf. Er senkte den Kopf und sagte ehrfürchtig: »Girolamo di Leone. Verfügt über mich, Maestro.«

Ein Marrano, ein getaufter Jude also, stellte Bramante fest. Der Konvertit nahm ihm das Gepäck ab, rief seinen Hausdiener herbei und hieß ihn, das Gepäck des Architekten auf das Zimmer im ersten Stock zu bringen, das bereits für ihn hergerichtet war. Derweil führte er den Gast an einen Tisch in der Wirtsstube und erkundigte sich nach den Beschwernissen der Reise. An den anderen Tischen saßen ein paar Männer bei der Mahlzeit. Bramante stöhnte, als der appetitliche Duft aus den Tellern und Schüsseln in seine Nase drang. Girolamo gab ihm zu verstehen, dass von den Männer keine Gefahr ausging, und ließ seinem sichtlich erschöpften und hungrigen Gast zügig ein üppiges Mahl vorsetzen: Pasta mit Tintenfischen, als Hauptgang bollito misto, heiß, dampfend und fett und schließlich geräucherten Aal. Dazu servierte eine üppige junge Frau, deren schwarze Locken unter einem gepunkteten Kopftuch hervorquollen, Bramante einen kräftigen Bianco aus der Region, dem er eifrig zusprach. Noch während der Mahlzeit neigte sich der Wirt verschwörerisch zu ihm hinüber und flüsterte. »Ihr werdet um Mitternacht in der Kirche San Vitale erwartet, Messèr Bramante.«