»Ah, Donato«, sagte Imperia freundlich, »schau her, das ist meine Tochter Lucrezia.«
Das Mädchen musterte ihn neugierig mit ihren großen taubenblauen Augen. Die Unbefangenheit ihres Blicks verriet ihm, dass Imperia ihrer Tochter noch nie einen ihrer Freunde oder Gönner vorgestellt hatte. Die Ehre und das Vertrauen, das ihm die Geliebte entgegenbrachte, rührten ihn. Er schwor sich im Stillen, es niemals zu missbrauchen, als Lucrezia das Wort an ihn richtete.
»Schade, dass ich zurückmuss, sonst könntet Ihr mir eine Geschichte erzählen.«
»Lucrezia liebt Geschichten über alles. Geschichten, Geschichten und immer mehr Geschichten müssen es sein«, erklärte die liebende Mutter stolz.
»Ihr seht aus, als ob Ihr viele Geschichten kennt«, sagte das Mädchen.
»Wie kommst du darauf, mein Kind?«, fragte Bramante und riss zum Spaß verwundert die Augen auf.
»Weil Ihr schon so alt seid.«
Die Worte versetzten Bramante einen Stich ins Herz. Er war wahrlich schon recht alt, im Vergleich zu ihr sogar uralt. Doch Lucrezia ließ ihm keine Zeit zum Nachdenken, sondern fuhr mit heller Stimme fort.
»Es muss sehr schön sein, so alt zu sein und so viele Geschichten zu kennen.«
Bramante musste unwillkürlich lächeln. Sicher, Erfahrung wog viel und beglückte und entspannte allemal. So viele Dummheiten im Leben musste man nicht ein zweites Mal begehen. Aber zum einen war dieses Privileg mit nachlassenden Kräften teuer erkauft, und andererseits hieß das ja leider nicht, dass man nicht neue Torheiten beging. Jedes Alter kannte seine eigenen Narreteien.
»Ich fürchte, mein kleiner Engel, du hast meinen Besuch in eine nachdenkliche Stimmung versetzt«, schalt Imperia lächelnd ihre Tochter.
»Nein, nein«, wehrte Bramante ab. »Oder doch, ja. Es war nämlich sehr gescheit, was du gesagt hast, Kleine. Verrate mir, wer dein Erzieher ist? Er muss ein außerordentlich kluger Mann sein.«
»Männer sind nicht klug, sagt Mama immer. Nein, die gütigen Nonnen vom Kloster auf dem Campo Marzio haben mich unter ihre Fittiche genommen«, antwortete Lucrezia mit frommem Augenaufschlag. Ein rascher Blick zu Imperia verriet ihm, dass ihr das Zitat ein wenig peinlich war, sie zugleich aber auch amüsierte.
»Eine vortreffliche Wahl«, sagte Bramante freundlich.
»Warte oben auf mich, Donato«, bat Imperia. »Ich möchte mich von meiner Tochter verabschieden.«
Der Diener führte Bramante die Treppe hinauf zu einem prächtig eingerichteten studiolo, bot ihm einen Platz an und brachte ihm ein Glas Wein. Die Wände des Raumes waren von golddurchwirkten Seidentapeten bedeckt, auf dem Boden lagen kostbare orientalische Teppiche. Auf Schränken und Tischchen standen verschieden große Porzellanvasen, die mit chinesischen Motiven bemalt waren. Auf einer mit reichen Schnitzereien verzierten Truhe lag eine wunderschöne Laute. In einem Schrank entdeckte Bramante Bücher. Er wollte sich gerade erheben, um sie näher zu besehen, da betrat Imperia das Studierzimmer, das offenbar auch als Empfangsraum diente.
Sie wirkte ein wenig verwirrt und traurig. Bramante sah eine Träne auf ihrer Wange glitzern, bevor sie sie rasch mit dem Handrücken wegwischte. Der feine Schleier hatte sich wieder über ihre Augen gelegt.
»Verzeih mir, Donato. Lucrezia und ich, wir haben uns einfach zu selten. Einmal die Woche ein paar Stunden.«
»Zieht zu mir, ich …«
»Nein«, fiel sie ihm ins Wort. »Nein!« Sie nahm einen großen Schluck aus seinem Weinglas. »Ich muss eine schlechte Mutter sein, um eine gute Mutter sein zu können. Verstehst du das? Hast du Kinder, Donato?«
Er merkte, dass sie keine Antwort von ihm erwartete. Dann hatte sie sich offenbar wieder gefangen, denn sie schaute ihn an wie immer, freundlich, liebevoll, mit einer gewissen Distanz. »Hast du dich entschieden?«
»Warum willst du mir helfen?«
»Ich will vor allem mir helfen. Die Risiken meines Berufes sind bekanntlich sehr hoch – ein sittenstrenger Papst, ein eifersüchtiger Liebhaber, die Franzosenkrankheit, die teuflische Intrige einer Konkurrentin, das alles könnte meinem Reichtum schnell ein Ende setzen. Was würde dann aus meiner Tochter? Ich war keine drei Jahre älter als Lucrezia, als mich meine Mutter für diesen Beruf bestimmte, dem sie selbst nachging. Ich will meiner Tochter dieses Schicksal ersparen! Es ist eine einfache Rechnung: Du brauchst einen mächtigen Verbündeten und ich einen Liebhaber, der reich genug ist, um sich eine Mätresse zu halten, damit ich meine Tochter absichern kann.«
»Aber ich liebe dich, Imperia«, rief Bramante verzweifelt. Es war wie ein Aufbegehren gegen die Verlogenheit und Ungerechtigkeit der Welt, die er nur allzu gut kannte und deren Unzulänglichkeiten er auszunutzen gelernt hatte.
»Wir sind beide nicht mit dem goldenen Löffel im Mund geboren. Deshalb können wir uns auch beide nicht den Luxus leisten, unsere Liebe zu leben«, sagte Imperia müde.
»Aber ich …«
Sie legte ihre Hand vor seinen Mund und sah ihm mit einem unerträglich traurigen Lächeln in die Augen. »Ach, Donato, du versprichst mir Sicherheit und bist im gleichen Moment dabei, dich in das größte Abenteuer deines Lebens zu stürzen. Wie passt das zusammen? Ich allein würde mich ja darauf einlassen. Aber ich muss an meine Tochter denken. Das ist meine Aufgabe vor Gott!«
»Ich verzichte auf das Projekt!«, rief Bramante. »Auf diese ganze Eitelkeit.« Er spürte selbst, wie wenig überzeugend er klang.
»Meinst du, das könntest du? Und wenn du es wirklich tätest, würdest du mir diesen Verzicht jemals verzeihen? Mir und Lucrezia? Du würdest das Mädchen dafür hassen. Und das, Donato, will ich nicht! Ich will, dass meine Tochter geliebt und geachtet wird! Nicht, dass man sie hasst. Und was die Eitelkeit betrifft, höhne dieser lieben, guten Sünde nicht, wir leben vortrefflich von ihr!«
Schweren Herzens gab er ihr innerlich recht. »Du willst also exklusiv arbeiten?«
»Es ist das Sicherste. Vorausgesetzt, er ist reich genug.«
»Es gibt keinen, der reicher ist als er«, lachte Bramante bitter. Der Schmerz hatte sich in seinem Inneren eingenistet und tanzte auf seinem Herzen eine Tarantella. Er sollte auf seine Liebe verzichten, nur weil ihre Tochter nicht dem käuflichen Gewerbe nachgehen sollte. Er fühlte sich plötzlich vom Leben betrogen.
»Der König der Bankiers und die Kaiserin der Kurtisanen, welch schönes Paar«, höhnte er. Er fühlte sich hilflos und ärgerte sich über seine kindischen Vorhaltungen. Aber er kam nicht an gegen dieses beklemmende Gefühl der Vergeblichkeit. Natürlich reagierte er ungerecht, gemein und verletzt. Er fühlte sich alt und gichtbrüchig. Und von allen verlassen. Mondo cane, so sah die Welt von der Hundeseite aus. Die Worte hatte er von Leonardo gelernt, der kein Latein konnte, auch wenn er immer so tat. Eine seiner zahllosen Spinnereien; er hatte sich sogar ein italienisch-lateinisches Wörterbuch gebastelt.
»Wenn ich es ohnehin nicht verhindern kann, dann soll es mir wenigstens nützen«, sagte er kühl und ohne sie anzusehen. »Ich habe für heute Abend eine Einladung zu Messèr Agostino.«
»Hol mich in drei Stunden mit einer dreispännigen Kutsche ab. Ich will vorfahren wie eine Kaiserin«, sagte Imperia, bemüht, ihre Stimme ebenfalls sachlich klingen zu lassen.
Michelangelo wollte gerade einen Brief an seinen Vater versiegeln, als Francesco einen hohen Besucher in seine Werkstatt führte. Mit rotem Barett und einer Mozetta aus rot gefärbter Seide über dem roten Mantel aus Brokat stand Kardinal Francesco Alidosi vor ihm. Die großen, ausdrucksvollen Augen in dem schmalen Gesicht, aus dem eine schlanke, gebogene Nase ragte, lächelten gütig.