Выбрать главу

»Es geht zu Ende, mein Freund, das Leben verlässt mich in Etappen. Ich sterbe bei lebendigem Leib. Stück für Stück.« Sie lächelte ihn ein wenig melancholisch an. »Aber ich hatte doch ein gutes Leben, findet Ihr nicht? Was waren das für atemberaubende Jahre, als wir nach Rom kamen und es Agostino gelang, vom Heiligen Vater das Monopol für den Alaunabbau zu erhalten.« Sie schlug sanft die Hände zusammen. »Und dabei beteten wir damals jeden Abend, dass es gelingen möge. Wir hatten unser ganzes Geld investiert und Schulden angehäuft, um alle an der Kurie, einschließlich des Papstes und Cesare Borgia, davon zu überzeugen, dass das Monopol bei uns in den besten Händen wäre. Und Gott hat es gut mit uns gemeint. Wir erhielten es, und von da an ging es immer bergauf. Beängstigend, immer nur bergauf. Es gibt keine größere Stadt, in der unser Bankhaus nicht eine Filiale unterhält, in Venedig, in Paris, in London, sogar in Konstantinopel. Es hieße Gott zu beleidigen, wenn ich klagen würde. Er hat mir ein gutes Leben und einen großartigen Mann geschenkt, grazie, Dio mio!«

Bramante schaute zu Imperia und Agostino hinüber, die eine ausgelassene Gaillarde tanzten. Wie ungerecht, dachte er. Sie folgte seinen Blicken und fühlte wohl, was in ihm vorging.

»Mein Mann hat mich nie betrogen, mich immer mit Liebe behandelt. Ich will, dass er glücklich ist.« Dann lächelte sie verschmitzt. »Ihr werdet es nicht glauben, Messèr Donato. Ich war es. Ich habe sie ihm doch ausgesucht. Ich wollte, dass es die Beste ist, die ihn trösten wird«, sagte sie in einem Ton, als würde sie ihm einen kleinen Streich beichten. »Darf ich Euch um einen Gefallen bitten, mein Freund?« Er nickte. »Leiht mir Euren Arm, und bringt mich zu meinen Gemächern. Ich spüre, dass die Krankheit wiederkommt, und ich möchte nicht, dass es jemandem auffällt.«

Bramante erhob sich und reichte ihr nach einer sehr tiefen Verbeugung formvollendet wie ein Kavalier den Arm. Sie umfasste ihn und zog sich entschlossen hoch. An ihrem festen Griff erkannte er, dass sie Schmerzen hatte, die sie unter-drückte. Ihr Gesicht strahlte Freundlichkeit und Souveränität aus. Langsam, als ob sie tanzten, schritten sie zum Ausgang, der in die Küche und von dort zu einer kleinen Treppe führte, über die man das Obergeschoss erreichte. Dort lagen die Schlafräume der Familie. Unmöglich hätte sie sich von einem Diener bringen lassen können, das wäre aufgefallen.

»Ich danke Euch, mein Freund.«

»Es ist an mir, Euch zu danken, Madonna. Ihr seid die tapferste Frau, die ich kenne.«

»Teurer Donato, Ihr müsst jetzt nicht feierlich werden, noch bin ich nicht tot.«

Sie hatten den Saal verlassen und standen nun vor der kleinen, steilen Treppe. Margarita sah hinauf, und ihr Gesicht wurde immer mutloser.

»Darf ich Euch auf den Arm nehmen?«, fragte Bramante.

»Es wäre mir eine Ehre, von Euch auf den Arm genommen zu werden.«

Er fasste beherzt zu und trug sie in die obere Etage. Wie leicht sie war, dachte er. Oben nahm sie ihre Kammerzofe in Empfang.

»Ich danke Euch, cavaliere mio!«, flüsterte sie ihm zu.

Bramante verbeugte sich und kehrte er in den Saal zurück. In seiner Brust tobten die Gefühle. Sie hatte ihrem Mann die Geliebte ausgesucht. Und solange sie lebte, würde Agostino die Angelegenheit diskret behandeln – falls Imperia ihn erhörte. Was für eine Frage!

Er blickte sich suchend um, aber er sah beide nicht mehr. Da fühlte er, dass jemand leicht von hinten seinen Unterarm berührte, und wandte sich um.

»Warte nicht auf mich«, sagte Imperia leise. Dann war sie verschwunden. Wie in einem Zaubermärchen oder verwandelt wie in den »Metamorphosen« des Ovid, nur dass nicht er, sondern Chigi in diesem Fall den Zeus gab. Selten hatte sich Bramante so einsam gefühlt. Zeilen aus einem Sonett kamen ihm in den Sinn, das er vor vielen Jahren in Mailand gedichtet hatte:

»So trüg den Schiffer Nebel, der der Sterne

Geleit ihm raubt auf See, wie mich getrogen

Die Maske, die ihr Antlitz mir entzogen …«

An den Anlass für seine poetische Regung konnte er sich nicht erinnern, doch nie hätte er geglaubt, dass sich die Zeilen für ihn in einer solch schmerzhaften Weise erfüllen sollten. Er trat auf die Straße hinaus.

Von fern zeigte sich schmal wie ein Schlitz im Schmutzgrau des Dämmers ein Lichtstreif über Rom. Bramante hatte keine Hoffnung, dass die Sonne die Gespenster der Nacht vertreiben würde – im Gegenteil, der Verlust der Dunkelheit würde sie nur heftiger gegen ihn wüten lassen. Ruhelos, blicklos, ja auch ohne Gedanken rannte er durch die Straßen der tagenden Stadt.

Ihm graute davor, nach Hause zu gehen, doch verspürte er auch wenig Neigung, in eines der öffentlichen Häuser der Stadt einzukehren, um bei Wein, Weib und Gesang seine Einsamkeit zu vergessen. Er wusste, dass es eine Dummheit war, Imperias Entscheidung auf sich zu beziehen. Dennoch tat er das Dümmste – er nahm ihre Entscheidung persönlich. Er fühlte sich abwechselnd gekränkt, beleidigt, gedemütigt, verhöhnt, zurückgestoßen, übergangen. Eine ganze Heerschar an Verletzungen marschierte in seinem Herzen auf, und das Banner, das ihr voranwehte, war das Banner des Grolls.

Benommen lief er weiter durch die dösenden Gassen und stand plötzlich vor einer kleinen Klosterkirche. Er glaubte sich daran zu erinnern, dass in dem Kloster jene Nonnen des zweiten Ordens lebten, die der heiligen Klara nachfolgten. Die romanische Basilika wirkte trotz des Glockenturms mächtig und ausgesprochen wehrhaft, als wollte sie der vergehenden Zeit trotzen. Sacht schob er die schwere Eichentür auf. Das Kirchenschiff schimmerte im Licht der Kerzen. Bramantes Augen wanderten an den hohen Wänden nach oben und folgten der langen Reihe kleiner Bogenfenster unter dem Dach, die in ihrer Trutzhaftigkeit an Schießscharten erinnerten.

Ein Detail fesselte seine Aufmerksamkeit und berührte ihn. Vom Fenstergesims stieß sich mit aller Kraft eine schwungvolle Steinwelle ab, die sich dem auf sie stürzenden Gebälk mutig entgegenstemmte und dem toten Mauerwerk Leben verlieh. Ihm schien, dass die Basilika ohne die tapferen Gewändschwünge, die sich erfolgreich gegen die Kraft des Himmels und des Schicksals wehrten, unter der Last des Weltalls zusammenbrechen müsste. Man musste bauen und gegenbauen, nicht nur Kraft abführen, sondern Kraft auch Kraft entgegensetzen, dachte er.

Plötzlich drang ein Flüstern an sein Ohr. Er hielt inne, wandte sich nach rechts und entdeckte in der ersten Kapelle ein Mädchen, das vor einem Kreuz kniete, vor dem sich eine mit Mosaik eingefasste Fenestella befand. Er trat leise näher. Das Mädchen in dem grauen Umhang kam ihm bekannt vor. Bei näherem Hinsehen erkannte er Lucrezia, Imperias Tochter. Eine Weile betrachtete er stumm die kniende Gestalt, und allmählich, aber unaufhaltsam übertrugen sich seine feindseligen Gefühle Imperia gegenüber auf das Mädchen. Hass übermannte ihn. Warum sollte er sie nicht aus Rache verführen und damit Imperias Hoffnung zunichtemachen, für die sie ihn doch verlassen hatte? Warum sollte er sich nicht von der Tochter holen, was ihm die Mutter ihretwegen vorenthielt? Warum sollte er sie nicht aus Rache für den Verrat einfach zur Hure machen? Natürlich war das grausam, aber – zum Teufel! – das Leben kannte keine Rücksichten. Was man sich nicht nahm, überließ man einem anderen, und die Hölle kam sowieso zu früh. Man musste sich nur einen Vorrat an Erinnerungen schaffen, an dem man sich in der kalten Ewigkeit wärmen konnte.

»Heilige Jungfrau Maria im Himmel, du sitzt zur Rechten deines Sohnes, schütze meine gute Mutter. Amen.« Hell klang die Stimme des Mädchens, unschuldig und rein. Wie der Anfang des Lebens.

Bramante schämte sich für seine Gedanken. Was konnte Lucrezia für den Zustand der Welt? Hatte sie denn Rom geschaffen, die Stadt erfunden, war sie denn Gottes Berater? Mitnichten! So wie sie haben wir alle einmal gehofft, dachte Bramante. Waren wir denn nicht alle einst Kinder, schutzlos und der Anbeginn der Hoffnung? Doch dieses jämmerliche Leben hat uns schließlich verdorben und verroht, dachte er bitter. Was hat es nur aus uns gemacht? Tiere, die den lieben langen Tag nur auf die Befriedigung ihrer Triebe aus sind. Er kämpfte mit einem Brechreiz. Als Menschen werden wir geboren und enden doch als Vieh.