Plötzlich empfand er Mitleid mit sich, denn er machte darin keine Ausnahme. Der Gedanke an das Kind, das er einmal war, erfüllte ihn mit väterlicher Liebe zu dem betenden Mädchen. Mit einem Mal fürchtete er, dass Pico in diesem Augenblick vom Himmel herabsah und Zeuge seines Frevels geworden war, seine Gedanken gehört hatte. Er schämte sich vor seinem toten Freund, vor dem Mädchen, vor sich und bekreuzigte sich unwillkürlich – wohl das erste Mal seit Jahrzehnten. Er wollte sich wegschleichen, doch sie hatte ihn bemerkt.
»Messèr Donato!«
Er sah auf das kniende Mädchen, das sich ihm in einer Drehung zuwandte, die er in ihrer Vollendung niemals zu Papier gebracht hätte. Der Blick, mit dem sie zu ihm aufschaute, ging ihm durch Mark und Bein. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Bramante die Reinheit gesehen, mit über sechzig Jahren, einem Alter, in dem die meisten Menschen, die er gekannt hatte, bereits verstorben waren. Innerlich bat er um Vergebung und schwor so inbrünstig, als ginge es um sein Seelenheil, das Mädchen, wenn nötig, zu beschützen.
»Dass Ihr ein guter Mann seid, wusste ich von meiner Mutter, aber dass Ihr auch ein frommer Mann seid, ist mir neu. Kommt.« Einladend streckte ihm Lucrezia ihre kleine Hand entgegen. Ein Engel, der ihn aus dem Sumpf zu ziehen gedachte. Der Architekt errötete und dankte dem spärlichen Licht. Dann tat er alles Denken und sein Leben ab und kniete neben ihr nieder.
»Beten wir für deine Mutter«, hörte er sich sagen.
Nachdem sich Lucrezia von ihm verabschiedet hatte und durch eine Nebentür ins Kloster zurückgekehrt war, kniete Bramante noch eine Weile vor der Fenestella, in die eine kostbare Reliquie eingelassen war, der Kopf Johannes des Täufers. Als er schließlich aufstand und sich zum Gehen wandte, fielen die Strahlen der Sonne durch die drei hohen Fenster über den Eingang der Basilika und brachten das Gold der Apsis zum Glühen. Licht, wie er noch kein Licht gesehen hatte, Erleuchtung. Er wandte sich noch einmal zu der Kapelle um. Warum hier? Warum Johannes? Weil er der Täufer desjenigen war, der die neue Kirche errichtet hatte? War es das Alter, war es das Mädchen, dass er, Bramante, vom Überguten des Christentums überwältigt worden war? Verwirrt verließ er die Kirche. In seinem Kopf ertönte mit der Eindringlichkeit eines Gassenhauers ein Tedeum.
Zu Hause angekommen, erwartete ihn bereits ein abgerissener Kerl namens Paolo, der für ihn Spitzeldienste verrichtete.
»Herr, der schiefnasige Bildhauer ist aufgebrochen.«
»Wie, er ist aufgebrochen? Wohin?«
»Nach Carrara. Er will dort die nächsten Monate verbringen, um den Marmor für das Grabmal des Papstes auszusuchen. Er ist so misstrauisch, dass er sogar die Bergung und den Transport der Steine selbst überwachen will.«
Bramante unterdrückte einen Aufschrei. Er konnte sein Glück kaum fassen. »Woher weißt du das alles?«, fuhr er den Spitzel an.
»Von seinem Diener, von Francesco.«
Kurz richtete der Baumeister seine Augen zur Decke und dachte: Grazie, Dio mio.
»Lass dir einen Scudo geben, und dann verschwinde. Wehe, wenn du dich verhört hast«, sagte Bramante, der den Mann so schnell wie möglich loswerden wollte, um seine Gedanken zu ordnen und sich unbeobachtet seiner Freude hinzugeben.
»Dann könnt Ihr meine Ohren den Hunden zum Fraß vorwerfen!«, rief der Mann, hocherfreut über den außergewöhnlich guten Verdienst, und machte sich rasch aus der Tür, ehe der Herr womöglich noch seine Freigebigkeit bereute.
Der Herr aber sprang und tanzte wild in seinem Zimmer herum und sang dabei in allen Melodien, die ihm einfielen: »Deus lo volt! Deus lo volt!«, den alten Kreuzfahrerspruch: Gott will es. Alles passte so vortrefflich zusammen. Ganz außer Atem ließ er sich schließlich in einen Lehnstuhl fallen und schnaufte. Er zweifelte nicht daran, dass er sich mit Gott sehr gut verstehen würde. Der Allmächtige war doch ein zynischer Kerl, unterhaltsam dabei und nicht ohne Witz. Da überließ der überhebliche Florentiner ihm in der entscheidenden Phase in Rom das Feld, um Marmor auszusuchen. Dümmer konnte man nicht sein! Und er, Bramante, würde die Zeit der Abwesenheit des Konkurrenten gut zu nutzen wissen. Eiserner als in jeder anderen Stadt galt in Rom der Spruch: aus den Augen, aus dem Sinn. Sollte sich Michelangelo doch in den kalten Bergen vergnügen bei Signore und Signora Steinebrecher, er hingegen würde derweil in der Ewigen Stadt das Feld zu seinen Gunsten bestellen und den Tempel des irdischen Jerusalem errichten, den größten und schönsten Tempel der Welt! Denn Gott wollte es ja. Diese Verheißung hatte er in den Augen des Mädchens Lucrezia entdeckt. Gott wollte es!
23
Rom, Anno Domini 1505
Mit struppigem Haar und unordentlichem Kinnbärtchen stand Agostino Chigi nackt am Fenster und schaute zum Glockenturm von Santa Maria in Turri hinüber, der Kirche, die sich im Atrium der Peterskirche befand. Imperia, die, in einen Morgenmantel aus Seide gehüllt, auf dem Bett saß, füllte einen Kelch mit Rotwein.
»Dein Haus liegt genau zwischen Sankt Peter und unserem Palazzo am Monte Giordano.«
»Das passt – erst sündigen, dann beichten.«
»Und auf dem Rückweg bereuen.«
»Was?«
»Die Beichte.« Während er den Wein in kleinen Schlucken genoss, berichtete Chigi Imperia vom Fortgang der Umbauarbeiten an dem kleinen Palazzo, den er unweit des Tibers, zwischen Trastevere und dem Borgo gelegen, erworben hatte. »Ein junger Mann aus meiner Heimat, aus Siena, baut ihn für mich aus. Baldassare Peruzzi. Was sagst du dazu?«
»Ich kenne ihn.«
Er warf ihr einen misstrauischen Blick zu, bevor er die aufkeimende Eifersucht überspielte. »Du kennst ihn?«
Sie blitzte ihn an. »Ich habe dir gesagt, dass es keinen anderen Mann in meinem Leben mehr gibt. Ich halte mein Wort.« Dann fügte sie ruhiger hinzu: »Ja, Donato hat ihn mir einmal vorgestellt.« Sie nahm ihm den Kelch aus der Hand und trank. »Warum hast du nicht Donato beauftragt?«
Er erklärte ihr, dass Bramante genug zu tun habe und man auch jungen Talenten, zumal wenn es sich um Landsleute handele, eine Chance geben müsse.
Sie hatte ihn durchschaut, natürlich war er eifersüchtig, rasend eifersüchtig. Wenn Agostino Chigi eines nicht konnte auf der Welt, dann teilen, ganz gleich, worum es sich handelte. Imperias Fingerspitzen fuhren über seinen Nacken, dann drückte sie mit Daumen und Zeigefinger zu. Wohlig schloss er die Augen.
»Unterstütze Donatos Ideen zum Ausbau der Peterskirche.«
Er riss die Augen auf. Sein Instinkt riet ihm, wachsam zu sein, denn sie hatte ihn nicht gebeten, sondern eine Forderung aufgestellt.
»Ich habe dir versprochen, das Auskommen deiner Tochter zu sichern.«
Sie nickte. »Und dafür bin ich dir dankbar. Aber hilf Donato. Der Papst muss den Ausbau der ersten Kirche der Christenheit vorantreiben. Sie darf nicht zu klein ausfallen.«
»Warum?«
»Weil eine neue Zeit angebrochen ist, und die Peterskirche ist so eine Art Arche Noah. Sie muss seetüchtig sein, Agostino.«
Innerlich verneigte sich der Bankier vor der Klugheit der Kurtisane. Aber er schätzte es ohnehin, wenn eine Frau Verstand besaß. Seine Gemahlin hat ihm in allen Geschäften mit ihrem scharfen Urteilsvermögen beigestanden. Und so schön Imperia war, die Sinnlichkeit ihres Körpers hätte ihm kaum den Verstand geraubt, wenn sie nicht einen ebenso faszinierenden Geist besessen hätte.
Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken.