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Bramante stopfte sich gleich drei Leberstücke aus dem dampfenden bollito auf einmal in den Mund und schmatzte vergnügt, obwohl sie noch so heiß waren, dass sie ihm eigentlich hätten Zunge und Gaumen verbrennen müssen. Aber er hatte in seiner Jugend gelernt, dass für denjenigen, der wartete, bis das Essen abgekühlt war, kein Bissen mehr übrig blieb. Da er die Gesellschaft von unten nach oben durchmessen hatte, kannte er die Menschen und verachtete sie. Niemand war besser, weil er besser lebte als die vielen anderen, und niemand war schlechter als sie, weil er schlechter lebte. Aber auch das Gegenteil, das ein gewisser Savonarola in Florenz verkündete, traf nicht zu. Armut war keine Tugend und Reichtum kein Laster. Der arme Mann war nicht besser oder Gott wohlgefälliger, weil er arm war. Und mochte es dem reichen Mann auch so vorkommen, wenn er sich den Pansen vollschlug, dass er im Himmel logierte, er befand sich immer noch im irdischen Jammertal. Deshalb war und blieb Demut für Bramante ein Fremdwort. Er glaubte nicht daran, dass er etwas bekam, weil er auf etwas verzichtete, solche Gedanken gehörten nicht zu seinem Naturell. Man besaß nur, was man sich nahm. Spätestens auf dem Abtritt würde ihm das wieder zu Bewusstsein kommen, dachte Bramante. Genau genommen ging es doch gar nicht um Reichtum oder Armut, schon gar nicht um Gerechtigkeit. Aber das alles grenzte schon an Philosophie, mit der er sich nicht beschäftigen wollte, weil sie ihm den Bauch nicht füllte und keine Frau in sein Bett brachte. Er empfand sich als treuer Ritter der Fortuna und fürchtete das Unglück wie der Teufel das Weihwasser. Und die Beschäftigung mit der Philosophie machte den Menschen nun einmal unglücklich. Das hatte er oft beobachtet.

»Ist diese Kirche weit von hier?«, fragte er den Wirt mit vollem Mund. Das flüssige Fett des Eintopfs troff ihm aus den Mundwinkeln, brachte Bartstoppeln und Kinn zum Glänzen und hinterließ dunkle Flecken auf seinem weißen Hemd.

Girolamo schüttelte den Kopf. »Keine zwei Gassen von hier, nicht zu verfehlen.«

Bramante rülpste herzhaft und blinzelte dem Wirt verschwörerisch zu. »Könnt Ihr ein Mädchen besorgen? So eine Dralle, Ihr wisst schon.« Er warf einen suchenden Blick durch den Gastraum, hob seine großen Hände und fügte lächelnd hinzu: »Sie sollen ordentlich zu tun bekommen.«

»Ruht Euch lieber aus. Es wird anstrengend genug!«, sagte Girolamo, ohne eine Miene zu verziehen.

Ihre Blicke maßen sich kurz, dann brummte Bramante versöhnlich: »Ihr mögt recht haben. Ein paar Stunden Schlaf tun mir sicher gut, obwohl ich noch genügend ausruhen kann, wenn ich erst tot bin und die verdammten Würmer ein Festmahl an mir halten.«

Melancholisch betrachtete er den Suppentopf und dachte, dass er im Grunde den Fleischtopf nur für die Würmer vorverdaute. Diese waren die eigentlichen Herren der Welt, nicht die Menschen. Dann schaute er noch einmal mit letzter Hoffnung auf, die er aber sogleich fahren ließ, als er auf den unnachgiebigen Blick Girolamos traf. Was für ein Pech! Dies war der erste Wirt, dem er begegnete, der sich als Tugendbold entpuppte, dachte Bramante resigniert. Dann stöhnte er kurz auf und bat den vermeintlichen Asketen, ihn kurz vor Mitternacht zu wecken.

Als er schnaufend und prustend die Stufen zu seiner Unterkunft erklomm, wunderte er sich über sich selbst und das krude Abenteuer, auf das er sich da eingelassen hatte. Mochte es endlich für ihn die Tür zum ewigen Ruhm aufstoßen!

Er wusste immer noch nicht, ob hinter dem Ganzen nur ein Schabernack oder eine ernsthafte Angelegenheit steckte. Vor ein paar Tagen hatte Leonardo ihn bei einer Hofgesellschaft beiseitegenommen und ihm zugeflüstert: »Wenn Ihr zu Gottes Baumeistern zählen und in die letzten Geheimnisse der Kunst eingeweiht werden wollt, findet Euch in zwei Tagen im Gasthof ›Zum tatkräftigen Hiram‹ in Ravenna ein. Alles Weitere erfahrt Ihr vom Wirt Girolamo. Ihr könnt ihm vertrauen, er gehört zu uns.«

Leonardo war es auch, der ihn kurz unterwiesen hatte, was er auf die Frage nach seinem Begehr antworten musste. Bramante war in den berühmten Kollegen gedrungen, um Näheres zu erfahren, aber der hatte ihm nur zugeraunt: »Enthülle es nicht, wenn dir die Freiheit lieb ist, denn mein Angesicht ist der Kerker der Liebe.«

Über die geheimnisvollen Worte Leonardos grübelte Bramante indes nicht weiter nach. Er hatte es bereits zu Anfang ihrer Bekanntschaft aufgegeben, Leonardos ständige Rätselsprüche lösen zu wollen. Dieser Notarsohn aus dem bergigen Vinci war schon ein komischer Kauz, immer außergewöhnlich elegant gekleidet und von einem Rudel junger Männer umgeben, einer schöner als der andere. Leonardo trieb einen Aufwand um sein Äußeres wie eine Frau. Ungewaschen oder auch nur mit schmutzigen Fingernägeln hatte ihn noch niemand gesehen, während sich Bramante nicht daran erinnern konnte, wann er sich das letzte Mal die Nägel gesäubert hatte. Gründlich gewaschen hatte er sich wohl einmal in den vergangenen Wochen, und er hielt sich deshalb für einen außerordentlich reinlichen Menschen. Ganz abgesehen von den gesundheitlichen Risiken, die man einging, wenn man seinen Körper zu oft mit Wasser in Berührung brachte.

Das Zimmer war die erste saubere Unterkunft in einem Gasthof, die er seit seinem Aufbruch aus Mailand vorfand. Auch das Bett wirkte frisch. Bramante begann schon zu hoffen, dass er diesmal von Wanzenstichen verschont bliebe. Mit einiger Mühe brachte er die Stiefel von seinen feisten Waden herunter und ließ sich dann erschöpft angekleidet auf die Schlafstätte fallen. Sogleich sank er in tiefen Schlaf, selig schnarchend wie ein gesättigtes Walross. Er hatte nicht einmal mehr das gequälte Knarren vernommen, das der strohbedeckte Bettkasten beim Aufprall seines wuchtigen Körpers von sich gegeben hatte.

Rom, Anno Domini 1492

Zur gleichen Zeit durfte sich Giacomo Kardinal Catalano in seinem Zimmer im Erzpriesterhaus gleich neben der Peterskirche endlich die bleichende Schminke aus dem Gesicht waschen, mit der er seinen braunen Teint aufhellte. Zuvor hatte er die Stiefel ausgezogen und Wams und Hose abgelegt. In dieser weltlichen Reisekleidung, die jetzt noch dazu von einer so dicken Kruste aus Schmutz und Staub überzogen war, dass die ursprünglichen Farben kaum noch zu erkennen waren, hatte er sich wie immer fremd gefühlt. Vor dem Spiegel in seiner Kammer rasierte er sich den Bart und nahm dann ein erfrischendes Bad. Als er die saubere Mönchskutte über seinen nackten, makellosen Körper streifte, stieß er einen tiefen Seufzer aus: Wieder zu Hause, endlich!

Es tat so gut, das grobe Habit auf der Haut zu spüren! Den festen Wollstoff würde er gegen keinen Damast, keinen Brokat und keine Seide eintauschen. Die Weite der Kutte, die den Leib nicht wie eine Hose einschnürte, verlieh ihm schon rein körperlich ein Gefühl der Freiheit. Leider zwang ihn der Dienst des Herrn immer wieder in die Gesellschaft und in die verhasste Alltagskleidung, bei der durch die Hodenkapsel seine männlichen Reize hervorgehoben wurden. Er selbst empfand das als qualvolle Prüfung, denn solche Eitelkeiten galt es zu unterdrücken. Je wohlgefälliger die Augen der Frauen auf ihm ruhten, desto stärker forderte Gott seine Tugend heraus. Und er hatte keine Möglichkeit, dem Jahrmarkt der Eitelkeit zu entfliehen, ganz im Gegenteil! Oft musste er seine Wirkung auf das weibliche Geschlecht sogar bewusst dazu benutzen, um seine Arbeit im Dienste des Herrn zum Erfolg zu führen. Obwohl er sich gegen die Verführung wehrte, stellten die Frauen eine ernsthafte Gefahr für ihn dar – ihr Blick, der ihn wie ein plötzlicher Rapierstoß direkt ins Herz traf, die leicht geöffneten Lippen, das sanft gerundete Dekolleté, das umso mehr enthüllte, zumindest der Fantasie, umso mehr es verbarg, und schließlich der Schwung der Hüften, der ihm die Sinne schwinden ließ, weil sie eine paradiesische Frucht verhießen.