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War er doch in eine Falle geraten? War der Auftraggeber dieser Männer vielleicht ein neidischer Konkurrent? Würde Amadeo sich dazu hinreißen lassen, einen Mord in Auftrag zu geben? Bramante wusste es nicht, möglich war alles. Menschen verzichteten nicht auf Vorteile, ganz gleich, was sie kosteten. Und bei Lichte besehen bildete auch er selbst darin keine Ausnahme. Nur befand er sich leider in diesem Fall in der unvorteilhaften Lage, das Opfer abzugeben.

Während er vorwärtsstolperte, zermarterte sich Bramante das Hirn. Wenn er wirklich aus dem Weg geschafft werden sollte, so war der Plan ebenso einfach wie geniaclass="underline" Ihn in Mailand abzustechen hätte viel zu viel Aufsehen erregt, ihn dagegen wegzulocken und in der Fremde zu ermorden, konnte im wahrsten Sinne des Wortes als todsicher gelten. Dennoch wurde er das Gefühl nicht los, dass an der ganzen Sache etwas nicht stimmte. Weshalb sollte jemand eine solche Mühe für sein plötzliches Ableben aufwenden? Man hätte ihn auch ohne große Umstände unterwegs ermorden und die Tat den Räubern und Wegelagerern in die Schuhe schieben können. Warum geschah dieser Überfall erst in Ravenna?

Bramantes Gedanken überschlugen sich, und seine Furcht wuchs. War es vielleicht noch schlimmer? Sollte er womöglich von ein paar Fanatikern in einem schaurigen Ritus geopfert werden? Was wollte man auch schon von einer Religion erwarten, in deren heiligstem Moment es hieß: »Dies ist mein Leib«, und: »Dies ist mein Blut«! Und in der es darum ging, dass die Gemeinde vom Leib eines Gekreuzigten aß und von dessen Blut trank?

Wenn er mit heiler Haut davonkommen sollte, schwor sich Bramante, würde er erstens ein paar handgreifliche Worte mit Messèr Leonardo wechseln und zweitens seinen Vorsatz, die Bau- und Kunstwerke der Alten zu suchen, zu studieren, zu vermessen und zu beschreiben, in die Tat umsetzen. Zuvor aber musste er erst einmal aus dieser Glaubensgruft entkommen.

Während die Häscher ihn vorwärtsdrängten und -schoben, versuchte Bramante mit aller Anstrengung, seine Hände aus den Fesseln zu lösen. Doch vergebens, der Lederriemen schnitt ihm nur bei jedem Rütteln tiefer und schmerzhafter ins Fleisch.

Rom, Anno Domini 1492

Das Dach der Vorhalle der alten Peterskirche ruhte auf zwölf Arkaden wie auf den zwölf Aposteln. Die schlanken Säulen des Vorbaus waren von einer erhabenen Schlichtheit. Im Dunkeln konnte Giacomo die Fresken über dem Eingang zur Basilika natürlich nicht erkennen, aber das war auch nicht notwendig. Er trug die Bilder in sich – Jesus Christus, die Gottesmutter, Papst Gregor der Große, schließlich darunter die Evangelisten und die vierundzwanzig apokalyptischen Greise, daneben symbolisch die Städte Jerusalem und Bethlehem. Die seit einiger Zeit geführten Diskussionen über den künstlerischen Wert der Darstellungen erregten den Zorn des jungen Mannes. Nach seiner Überzeugung stand es den Menschen nicht zu, über Darstellungen des Glaubens zu urteilen und sie ästhetisch zu bekritteln. Er fand sie wahrhaftig, und das genügte vollkommen. Die Fresken waren ein Gegenstand der Wahrheit und nicht der künstlerischen Eitelkeit. Überhaupt Künstler! In ihrer Vermessenheit schwangen sie sich immer mehr zu den Herren des Zeitalters auf und waren doch nichts anderes als im besten Falle eitle, aufgeblasene Strolche, im schlimmsten sogar Ketzer!

In Giacomos Augen hatten die Menschen ihre Demut verloren. Doch wenn der Mensch sich überhob, wurde er unglücklich, neidzerfressen und böse. Überall erhob die Ketzerei ihr verdammungswürdiges Haupt. In Frankreich – er war gerade aus Narbonne zurückgekehrt –, waren es die Waldenser, in Böhmen die Hussiten. Offenbar hatte es nicht viel genutzt, den Ketzer Jan Hus vor gut siebzig Jahren in Konstanz zu verbrennen. Seine Anhänger ließen einfach nicht ab von ihrer häretischen Verstocktheit.

Innig küsste er die Indulgenzbulle von Bonifaz VIII., die neben dem Portal als Bronzetafel eingelassen war. Der Papst hatte diese im Heiligen Jahr 1300 kurz vor seinem Tod erlassen und forderte darin die uneingeschränkte geistliche und weltliche Macht für den Stellvertreter Gottes, der sich jeder Herrscher unterzuordnen hatte. Genau darum ging es, dachte Giacomo, um die Errichtung von Gottes Regiment auf Erden. Aus keinem anderen Grund hetzte er seit drei Jahren im Auftrag der Frommen in der Kurie atemlos durch ganz Europa. Aus keinem anderen Grund drückte er jetzt zu dieser mitternächtlichen Stunde gegen die schwere Eichentür der Porta Ravenniana, die sich mit leisem Knarren öffnete.

Das Kircheninnere lag im Halbdunkel, nur erleuchtet durch ein paar Kerzen und Andachtslämpchen. Streifen von hellem Mondlicht, das durch die kleinen Fenster im Obergaden drang, lagen auf dem mit kostbaren Einlegearbeiten aus verschiedenfarbigem Marmor geschmückten Boden des Mittelschiffs. Die vier Seitenschiffe waren in Dunkelheit getaucht. Giacomo ging um einen Steinquader herum, der mitten auf dem Kirchenboden lag, weil er sich vor ein paar Wochen aus dem Mauerverbund gelöst hatte. Es ließ sich nicht leugnen – Gottes Haus wurde immer baufälliger. Reparaturen taten dringend not, wenn die Gläubigen nicht bei Andacht und Buße von herabstürzenden Ziegeln und Steinen erschlagen werden sollten. Wenn man es recht bedachte, war das ein Skandal bei einer Wallfahrtskirche, die doch dem Seelenheil der Pilger und nicht ihrem raschen Ableben dienen sollte!

Als er einen schwachen Weihrauchduft wahrnahm, rümpfte er die Nase. Er hegte eine empfindliche Abneigung gegen alle Gerüche, die ihre Existenz dem Feuer verdankten. Zwar wollte er im Kampf für den Glauben kein Mittel von vornherein ausschließen, aber er gehörte nicht zu jenen, die leichtfertig ein Autodafé forderten. Dazu kannte er den unerträglich süßlichen Geruch verbrannten Menschenfleisches zu gut. So gut, dass er ihn niemals mehr aus seiner Nase bekommen würde, seit er als neunjähriger Knabe in einem nicht enden wollenden Albtraum durch die Straßen und Gassen seiner Heimat, der kleinen katalanischen Bischofsstadt Tortosa, geirrt war. Überall loderten damals die reinigenden Feuer der Rechtgläubigkeit zum Himmel, und die Schmerzensschreie der Marranos, der zwangsgetauften Juden, hallten immer noch in seinen Ohren wider. Die sich steigernden Oktaven des Schmerzes würde er niemals vergessen.

Das alles war nun gut zehn Jahre her. Damals war er von einem Augenblick auf den anderen mutterseelenallein gewesen, für immer getrennt vom Vater, von der Mutter, von seinen Geschwistern. Tagelang war er durch die Stadt geirrt, hatte sich von Abfällen ernährt und sich zum Schlafen gelegt, wo es sich gerade ergab. Schließlich hatte er sich, ohne Plan, nur seinem Instinkt folgend, als blinder Passagier an Bord des nächsten Schiffes geschlichen. Der Knabe hatte nicht die geringste Vorstellung, wohin es ging, aber es trieb ihn mit aller Gewalt weg aus der Stadt des Todes. Wie im Taumel floh er von dem Ort seiner Schuld. Sollte der Heilige Geist entscheiden, wie sein Leben weiterverlaufen würde, er selbst vermochte es nicht.

Die gute Vorsehung hatte ihn auf ein Schiff nach Ostia geführt. Ein mitreisender Predigerbruder erbarmte sich seiner und nahm ihn mit nach Rom in seinen Konvent. Dort nannten sie ihn Il Catalano, den Katalanen, und bildeten den begabten Jungen in allen dafür notwendigen Künsten zu einem Glaubenskämpfer, zu einer scharfen Waffe des Herrn aus. Er liebte den Namen Il Catalano, weil darin, für die anderen nicht sichtbar, sein ganzes bisheriges Leben, Vergangenheit und Gegenwart, verborgen lag.

Giacomo fuhr sich mit der Hand über die Stirn, um die quälenden Visionen zu verscheuchen. Zuweilen wachte er, von seinen eigenen Schreien geweckt, mitten in der Nacht auf. Um ihn zu martern, bediente sich die Erinnerung furchtbarer Traumbilder, Fleisch, das von den Knochen schmolz, Menschenfett, das in die Feuerzungen tropfte und zischte. Wenn das geschah, suchte Giacomo die nächste Kapelle auf, warf sich vor dem Altar auf den kalten Boden, um seinen fiebrigen Leib zu kühlen, breitete die Arme aus, sodass er selbst zum Kreuz wurde, das er anbetete, und flehte den Allerhöchsten an: »Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa … Vergib mir, oh Herr, meine Sünden und erlöse mich von dem Bösen …«