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Deshalb frage ich dich, Donato, willst du das Maß der Engel erlernen, um die Stadt aus Gold zu bauen, um den Tempel des Allerhöchsten zu errichten, nach seinem Maß, dem Maß Gottes? Willst du Mitglied unserer Bruderschaft werden, der Fedeli d’Amore, ein Getreuer der Liebe, ein Bruder Johannes des Sehers, ein treuer Gefährte und unermüdlich Schaffender?«

Bramante staunte zwar, aber sein Misstrauen war noch nicht vollständig überwunden. Besonders die letzten Worte klangen so lästerlich, dass man ihretwegen auch auf dem Scheiterhaufen enden konnte. Er dachte nach, erinnerte sich an Leonardo, der ihn gefragt hatte, ob er dem Bund der Baumeister beizutreten und in die Mysterien des Bauens eingewiesen zu werden wünschte. Wenn er jetzt aus Feigheit verneinen würde, wäre diese Tür für immer zugeschlagen. Gab es etwas Verlockenderes, als in Gottes gute Baukunst initiiert zu werden? Er beschloss, es zu wagen.

»Ja, ich will«, sagte er mit fester Stimme und spürte gleich darauf zu seinem Entsetzen die Spitze eines Rapiers oder eines Messers, das langsam in seine Brust drang. Hatte er sich geirrt? Verbarg sich hinter dem Ritual doch eine Falle? Sein Herz, das die Spitze gleich treffen würde, schlug zum Zerbersten. Doch plötzlich ließ der Druck nach, und es tat noch einmal empfindlich weh, als die Spitze aus der kleinen Wunde gezogen wurde. Man hatte ihn mehr oder weniger nur mit der Klinge geritzt. Bramante überkam das seltsame Gefühl, als lächelten die Menschen um ihn herum, als wiche die Spannung einer freundlichen Gelöstheit.

Seine Hände waren durch die Lederfessel taub geworden, sodass er zunächst gar nicht merkte, dass jemand den Riemen gelöst hatte. Man streifte ihm Hemd und Wams wieder über, und mehrere Arme halfen ihm auf die Beine. Deutlich spürte Bramante, dass jemand ganz nah vor ihm stand. Der Atem des Mannes strich über sein Gesicht. Ungewöhnlich, dachte Bramante, er riecht nicht aus dem Mund. Die Augenbinde wurde gelöst, und er erblickte einen jungen Mann mit schulterlangem, rotblondem Haar, das über der Stirn gescheitelt war und in Locken bis auf die Schultern fiel. Die Schönheit seines Gesichts mit den blauen mandelförmigen Augen und dem außergewöhnlich sinnlichen Mund mit strahlend weißen und ebenmäßig geformten Zähnen wurde durch eine schmale, spitze Nase nur wenig gemindert. Der Fremde überragte Bramante um eine halbe Haupteslänge. Bekleidet war er mit einem weiten weißen Hemd, das sich über einer schwarzen Hose bauschte.

»Dann, Bruder, bist du aufgenommen, und das Blut deines Herzens wird unseren Liebesbund besiegeln«, sagte der Mann und umarmte Bramante.

Starr vor Erstaunen blickte dieser um sich: Vor ihm standen vier Männer, die ihm bekannt waren, und lachten ihn an. Es waren Leonardo da Vinci, Francesco di Giorgio, ein Baumeister aus Siena, sein Konkurrent Amadeo, Giuliano da Sangallo aus Florenz. Der fremde junge Mann schließlich stellte sich als Giovanni Pico della Mirandola vor und richtete Grüße von den Bundesbrüdern aus, die nicht anwesend sein konnten. Der Dichter Christoforo Landino und der Philosoph Marsilio Ficino waren zu alt für die weite Reise und Kardinal Giovanni de Medici zu jung – man hätte seinen Vater darüber in Kenntnis setzen müssen. Doch Lorenzo de Medici durfte keinesfalls erfahren, dass sein zweitältester Sohn den Fedeli angehörte.

Einen Moment lang leisteten Bramante Leonardo und Amadeo im Stillen Abbitte. Feierlich überreichte ihm Pico ein Buch, das an den Ecken Goldbeschläge trug. Bramante hielt Dantes »Göttliche Komödie« mit Landinos Kommentar in den Händen.

»Bruder Dante hat das gesamte Wissen über den Bau der Welt, über das unsere Bruderschaft verfügt, in dieser Dichtung versteckt. Und Bruder Landino hat es vorzüglich kommentiert. Nimm es hin, bewahre es, und lies es, und suche nach den Geheimnissen, nach den Worten hinter den Worten, den Bedeutungen hinter den Bedeutungen. Doch nimm dir auch die Warnung des Göttlichen zu Herzen: ›Da sah ich einen Punkt, der Licht verstrahlte; wenn es das Auge trifft, muss es sich schließen, so stark erschüttert es des Glanzes Macht.‹«

»Ich habe einen barbarischen Hunger!«, fiel Leonardo da Vinci seinem Bundesbruder ins Wort. »Habt ein Einsehen, Messèr Giovanni, und lasst uns bei Wein und Wildbret weiter über die Geheimnisse der Welt philosophieren.«

»Ach, Leonardo, Ihr bleibt mir ein Rätsel, mal entrückt und dann wieder ganz in der Wirklichkeit!«

»Mein Verstand steigt auf zu den höchsten Sphären, doch hat man leider vergessen, das meinem Magen mitzuteilen«, meinte Leonardo.

Pico schmunzelte, während die anderen in Gelächter ausbrachen.

»Was bedeutete das?«, fragte Bramante und wies auf die Buchstaben, die auf der Rückseite in den Ledereinband des Buches geprägt waren.

»›F.S.K.I.P.F.T‹?«, fragte Pico. Bramante nickte. »Für alle, die unserer Bruderschaft nicht angehören, bezeichnet es die Tugenden: fides, spes, caritas, justitia, prudentia, fortitudo, temperantia – Glaube, Hoffnung, Liebe, Gerechtigkeit, Weisheit, Tapferkeit, Mäßigung.«

»Und für uns?«, fragte Bramante.

»Für uns hat es noch eine tiefere Bedeutung, denn die Worte sind, was sie sind, aber sie sind noch etwas anderes, mehr noch, sie verbergen eine weit tiefere Bedeutung: Fidei Sanctae Kadosh Imperialis Principatus Frater Templarius

»Verzeiht bitte, aber ich verstehe kein Latein.«

»Es bezeichnet Dantes geheimen Ehrenrang im Orden der Templer.«

»Dante war Templer?« Bramante war die Verblüffung anzusehen.

»Schlagt das Buch auf, das in Eurer Hand liegt: Purgatorio, Gesang siebenundzwanzig, Vers sechzehn bis neunzehn.«

Bramante tat wie ihm geheißen und las: »›Ich beugte mit gerungenen Händen mich nach vorn und starrt’ ins Feuer, und im Geist erblickt ich menschliche Leiber, die ich brennen sah.‹« Vom Dichter befeuert, gaukelte seine Fantasie ihm einen Scheiterhaufen vor, auf dem sich Menschen vor Schmerzen wanden. Wie von fern drang Picos Stimme an sein Ohr.

»Was meint Ihr, an wen Dante hier denkt? An den letzten Großmeister der Tempelritter, an Jacques de Molay, der 1314 in Paris verbrannt wurde: ›… und im Geist erblickt ich menschliche Leiber, die ich brennen sah.‹«

»Als der Orden verboten wurde und Papst und König den Großmeister auf den Scheiterhaufen schickten, war Dante etwas über fünfzig Jahre alt«, erläuterte Leonardo.

»Nicht umsonst lautet der letzte Vers dieses Gesanges: ›So krön’ ich dich zu deinem eignen Papst und Kaiser‹«, zitierte Pico aus dem Kopf. »Der verräterische Papst und der hinterhältige König hatten versagt, von ihnen durfte Dante nichts mehr erwarten außer Arglist und Verrat. Wie viele Templer, aber auch wie viele Fedeli wurden in dieser Zeit getötet! Denkt an den großen Dichter Guido Cavalcanti, Dantes Freund, an den deutschen Meister Eckhart oder an Marguerite Porète, die noch vor Jacques de Molay in Paris den Scheiterhaufen bestieg.«

»Das alles findet sich nur verschlüsselt in seinem Werk wieder, denn er musste seine Beziehung zum Orden nicht nur geheim halten, sondern sie auch vergessen machen«, fügte Sangallo hinzu, der bis jetzt geschwiegen hatte.

»Nun aber rasch auf zum tatkräftigen Girolamo, mein Magen duldet keinen Aufschub mehr!«, drängte Leonardo.

Doch Bramante, überwältigt von dem, was er eben erfahren hatte, rührte sich nicht von der Stelle und bat: »Ich möchte mehr darüber wissen, schweigt nicht, bitte sprecht weiter!«