An dem nämlichen Abend faßte Kin-Fo den unabänderlichen Entschluß, diesem Jammerthale Lebewohl zu sagen.
Im Laufe des Tages kam ein Schreiben der trostlosen Le-U an. Die junge Witwe stellte Kin-Fo Alles zur Verfügung, was sie besaß. Ihr galt der Reichthum nichts! Sie würde ihn zu entbehren wissen! Sie liebte ihn ja! Was brauchte er mehr? Sollten sie nicht auch unter bescheideneren Verhältnissen glücklich werden können?
Auch dieser von zärtlichster Theilnahme eingegebene Brief vermochte an Kin-Fo’s Beschluß nichts zu ändern.
»Nur mein Tod allein, kann ihr von Nutzen sein!« dachte er.
Jetzt blieb ihm nur noch übrig, festzustellen, wie und wo er die letzte Hand an sich legen sollte. Kin-Fo fand ein gewisses Vergnügen daran, sich das ganz im Einzelnen zu überlegen. Er hoffte heimlich, daß ihm in jenem letzten Augenblicke, und wenn nur für ganz kurze Zeit, doch das Herz einmal vor innerer Erregung klopfen sollte.
In der Umgebung des Yamen erhoben sich vier hübsche Kiosks, ausgeschmückt mit all der Phantasie, welche die chinesischen Künstler auszeichnet. Sie trugen besonders gewählte Namen: das Lusthaus des »Glücks«, das Kin-Fo niemals betrat; das Haus des »Reichthums«, das er nur mit tiefer Verachtung ansah; das Haus des »Vergnügens«, dessen Thüren für ihn schon seit langer Zeit geschlossen blieben, und das Haus des »langen Lebens«, das er schon hatte abbrechen lassen wollen.
Sein Instinct leitete ihn heute, sich gerade für dieses Lusthaus zu entschließen. Er gedachte sich mit einbrechender Nacht dahin zu begeben. Dort sollte man ihn am nächsten Morgen, schon glücklich im Tode, auffinden.
Nachdem der Ort bestimmt war, kam die Frage an die Reihe, wie er sterben solle. Sollte er sich den Bauch aufschlitzen, wie ein Japanese, sich mit der seidenen Schnur erdrosseln, wie ein Mandarin, oder sich im wohlriechenden Bad die Adern öffnen, wie ein Epikuräer des alten Roms? Nein. Alle diese Todesarten schienen ihm zu roh und mußten für seine Freunde und Diener etwas Abstoßendes haben. Ein oder zwei Körnchen Opium, gemischt mit einem scharfen Gifte, mußten ja hinreichen, ihn aus dieser Welt in jene andere zu befördern, ohne daß er etwas davon fühlte, ja, vielleicht während eines schönen Traumes, der den zeitlichen Schlaf mit dem ewigen vermittelte.
Schon neigte sich die Sonne dem Horizont zu. Kin-Fo hatte nur noch wenige Stunden zu leben. Er wollte auf einem letzten Spaziergange noch einmal den Friedhof von Shang-Haï und die Ufer des Huang-Pu sehen, an denen er so oft gelangweilt dahingewandelt war. So verließ er denn den Yamen ganz allein – er hatte den ganzen Tag über Wang nicht ein einziges Mal gesprochen – um dahin zum letzten Mal zurückzukehren und ihn nie wieder lebend zu verlassen.
Er schlenderte ganz mit demselben Schritte wie früher – denn auch diese letzte Stunde seines Lebens vermochte darin nichts zu ändern – über das englische Gebiet, die Brücke über den Creek und die französische Niederlassung weg. Längs des Quais, der nach dem nächsten Thore führt, ging er um die Stadtmauer Shang-Haïs bis zur katholischen Hauptkirche, deren Kuppel die südliche Vorstadt überragt. Dann wandte er sich nach rechts und schlug seelenruhig den Weg ein, der zur Pagode Lung-Hao’s führt.
Hier dehnte sich das weite, flache Land bis zu den dunklen Höhen, welche das Thal des Min begrenzen, vor seinen Blicken aus, eine ungeheure sumpfige Ebene, aus der der Fleiß des Landwirthes üppige Reisfelder zu machen gewußt hat. Hie und da ein Netz von Kanälen, welche die Fluth des Meeres anfüllte, einige elende Dörfer, deren Hütten zwar von Rosen umrankt, die aber sonst mit gelblichem Schmutz bedeckt waren, oder einzelne zum Schutze gegen Ueberfluthung etwas höher angelegte, kahle Felder. Auf den schmalen Fußwegen entflohen eine Menge Hunde, weiße Ziegen, Enten und Gänse in größter Eile, wenn ein Wanderer sie aus ihrer Ruhe aufstörte.
Die chinesische Ebene dient gleichzeitig als allgemeiner Friedhof.
Dieses sorgsam cultivirte Feld, dessen Anblick einen Eingebornen nicht in Verwunderung setzen konnte, hätte doch wahrscheinlich die Aufmerksamkeit, ja das Entsetzen jedes Fremden erregen müssen.
Eine junge Tankadere. (S. 66.)
Ueberall nämlich sah man hier Särge zu Hunderten, ohne von den Erdhügeln zu sprechen, welche sich über den wirklich Beerdigten erhoben, nichts als Haufen von länglichen Kasten, Pyramiden von Särgen, welche wie Stämme in einem Zimmerhofe übereinanderlagen. Die chinesische Ebene in der Nähe der Stadt dient eben gleichzeitig als allgemeiner Friedhof. Ebenso wie zu viel Lebende, birgt das Land auch zu viel Leichen.
Man sagt, es sei verboten, die Särge unter die Erde zu bringen, so lange eine und dieselbe Dynastie den Thron des Himmlischen Reiches einnimmt, und solche Dynastien bleiben ja Jahrhunderte lang am Ruder. Ob hieran nun etwas Wahres ist oder nicht, jedenfalls harren die Cadaver in ihren Särgen, von denen die einen in hellen Farben leuchten, die anderen dunkel und bescheidener aussehen, oder die zum Theile noch neu und glänzend erscheinen, zum Theile auch schon in Staub zerfallen, meist ungeheuer lange auf den Tag ihrer Beerdigung.
Kin-Fo verwunderte sich über diesen Zustand der Dinge natürlich nicht. Er wandelte weiter, ohne die Blicke viel umherschweifen zu lassen. Zwei Fremde in europäischer Kleidung, die ihm folgten, seitdem er aus dem Yamen heraustrat, erregten nicht einmal seine Aufmerksamkeit. Er selbst sah sie nicht, obwohl jene bemüht schienen, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Sie hielten sich stets in gemessener Entfernung, gingen weiter, wenn sich Kin-Fo fortbewegte, und blieben stehen, wenn jener rastete. Dann und wann wechselten sie wohl auch bedeutungsvolle Blicke oder einige wenige Worte, und jedenfalls befanden sie sich nur hier, um den lebensmüden Wanderer zu beobachten. Mittelgroß, gegen dreißig Jahre alt gewandt und wohlgebaut, schienen sie mehr zwei Spürhunden mit scharfen Augen und schnellen Beinen ähnlich zu sein.
Nachdem Kin-Fo sich eine Stunde lang im Freien bewegt hatte, kehrte er nach den Ufern des Huang-Pu zurück.
Ebenso plötzlich kehrten die beiden Gestalten um.
Auf dem Wege begegnete Kin-Fo einigen elenden Bettlern, denen er ein Almosen verabreichte.
Etwas weiter kreuzten einige christliche Chinesinnen – von dem Orden, den die französischen Barmherzigen Schwestern gründeten – seinen Weg. Sie gingen dahin mit Tragkörben auf dem Rücken und in denselben Krippen mit armen, verlassenen Wesen. Man hat sie mit Recht »Lumpensammlerinnen« genannt. Diese kleinen unglücklichen Wesen sind ja auch nichts Anderes als weggeworfene, unbrauchbare, lebende Gegenstände.
Kin-Fo leerte seine Börse in die Hand der Barmherzigen Schwestern.
Die beiden Fremden erschienen sehr erstaunt über die Mildthätigkeit eines Sohnes des Himmlischen Reiches.
Der Abend sank herab. Als Kin-Fo an den Mauern von Shang-Haï war, schlug er wieder den Weg nach dem Quai ein.
Die schwimmende Bevölkerung schlief noch nicht. Geschrei und Gesang ertönten von allen Orten.
Kin-Fo horchte. Er war begierig, die letzten Worte zu erfahren, die sein Ohr vernehmen sollte.
Eine junge Tankadere, welche ein Boot durch die dunklen Fluthen des Huang-Pu führte, sang folgende Strophen:
»Meine Barke mit den lachenden Farben
Ist geschmückt
Mit tausend und zehntausend Blumen.
Ich erwarte ihn mit sehnendem Herzen!
Morgen muß er wiederkommen!
Blauer Gott, wache über ihn! Mög’ Deine Hand
Seine Rückkehr beschützen,
Und mögest Du den langen Weg
Ihm freundlich kürzen.«
»Er wird morgen wiederkommen! Und ich, wo werde ich wohl morgen sein?« dachte Kin-Fo, den Kopf schüttelnd.