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Kin-Fo erwartete sie, wie es die Höflichkeit erforderte, am Eingang des Hôtels. Sobald sie ankamen, führte er sie nach dem Empfangssalon, wobei er dieselben stets zweimal bat, durch die von Dienern geöffneten Thüren vor ihm einzutreten. Er nannte Alle mit ihren »vornehmen Namen«, erkundigte sich nach ihrer »vornehmen Gesundheit« und nach ihrer »vornehmen Familie«.

Auch der peinlichste Beobachter und gründlichste Kenner dieser läppischen Höflichkeitsbezeugungen hätte ihm keinen Verstoß gegen dieselben nachweisen können.

Craig und Fry bewunderten seine Gewandtheit; trotz aller Bewunderung verloren sie jedoch den ihrer Sorge anvertrauten Clienten nie aus den Augen.

Beiden war nämlich plötzlich ein und derselbe Gedanke gekommen. Wie, wenn nun, obwohl das kaum möglich schien, Wang doch nicht in den Wellen des Flusses umgekommen wäre?

Wenn er sich unbemerkt unter die Zahl der Gäste mischte?… Noch hatte ja die vierundzwanzigste Stunde des 25. Juni – die letzte der gewährten Frist – nicht geschlagen. Noch war die Hand des alten Taï-Ping nicht entwaffnet! Wenn er nun im letzten Augenblick…?

Nein, das konnte man kaum annehmen, und doch schien es nicht unmöglich.

Aus gewohnter Vorsicht musterten Craig und Fry sorgsam alle Anwesenden… Kein verdächtiges Gesicht befand sich darunter.

Inzwischen verließ die zukünftige Gattin ihr Haus in der Cha-Chua-Allee und nahm in einer verschlossenen Sänfte Platz.

Hatte Kin-Fo auch nicht die Kleidung eines Mandarinen angelegt – ein Recht, das jedem Bräutigam zusteht zu Ehren der Vermählung, auf welches die alten Gesetzgeber einen hohen Werth legten – so befolgte Le-U desto strenger alle in der vornehmen Gesellschaft giltigen Regeln. Sie glänzte in vollkommen rother, aus schweren, gestickten Seidenstoffen hergestellter Toilette. Ihr Gesicht verbarg sich sozusagen hinter einem Schleier feiner Perlen, welche von dem reichen, die Stirn begrenzenden goldenen Diadem herabzutropfen schienen. Köstliche Steine und künstliche Blumen schmückten ihr volles Haar und ihre langen Zöpfe. Kin-Fo mußte sie noch reizender finden als bisher, wenn sie aus der Sänfte steigen würde, die seine Hand bald öffnen sollte.

Der Zug setzte sich in Bewegung. Er überschritt die Straßenkreuzung nach der Großen Allee zu und folgte dann dem Boulevard Tiene-Men. Es wäre gewiß mehr Pracht entfaltet worden, wenn es sich statt um eine Hochzeit um eine Beerdigung gehandelt hätte, doch erregte der Zug auch jetzt schon die Aufmerksamkeit der Leute auf der Straße.

Freundinnen und Jugendgefährtinnen Le-U’s folgten dem Palankin und trugen die verschiedenen Stücke des Brautschatzes zur Schau. Voraus gingen etwa zwanzig Musiker, die mit ihren Kupfer-Instrumenten, unter denen sich auch ein Gong befand, einen Heidenlärm zu machen wußten. Um die Sänfte herum schwärmten eine Menge Träger mit Fackeln und bunten Laternen. Die Braut selbst blieb allen Blicken entzogen. Der Etiquette gemäß durfte sie eben Niemand eher sehen als der zukünftige Gatte.

So kam der Zug inmitten einer jubelnden Volksmenge gegen acht Uhr Abends am »Hotel des Himmlischen Glückes« an.

Kin-Fo stand mit seinen Freunden vor dem reich geschmückten Eingang. Er erwartete den Palankin, um sofort dessen Thür zu öffnen. Nachher schrieb ihm die Pflicht vor, die Braut nach einem besonderen Zimmer zu geleiten, wo Beide viermal den Himmel anrufen sollten. Erst darauf erschien das Paar bei dem Festmahle. Die Braut mußte vor dem Erwählten viermal auf die Kniee fallen, Letzterer vor ihr ebenfalls zweimal. Dann verspritzten Beide einige Tropfen Wein als Sühnopfer und boten den »Vermittelnden Geistern« Speise und Trank an. Zuletzt sollte man ihnen zwei gefüllte Becher bringen, welche sie zur Hälfte zu leeren hatten; der Rest wird endlich gemengt und von den Verlobten gemeinschaftlich getrunken, womit die Verbindung besiegelt ist.

Der Palankin langte an. Kin-Fo schritt auf denselben zu. Ein Ceremonienmeister überlieferte ihm den Schlüssel. Er ergriff diesen, öffnete die Thür und reichte der gerührten Le-U die Hand. Die Braut stieg aus und durchschritt die Reihe der Gäste, die sie durch Erheben der Hand bis zur Höhe der Brust ehrerbietig begrüßten.

Eben als die junge Frau den Eingang des Hôtels betrat, ertönte ein Signal. Ungeheure leuchtende Papierdrachen stiegen empor, schaukelten sich im leichten Abendwind und zeigten die vielfarbigen Embleme von Drachen, Phönix und anderen Andeutungen einer Hochzeit. Gleichzeitig flogen an Faden Tauben auf, die einen tönenden Apparat trugen und die Luft mit sanfter Harmonie erfüllten. Dazu brannte man Schwärmer und Leuchtkugeln in allen Farben ab, welche zerspringend einen wahren Goldregen ausschütteten. Plötzlich hörte man von dem Boulevard Tiene-Men her ein entferntes Geräusch. Es war ein Geschrei, untermischt mit den durchdringenden Tönen einer Trompete. Dann ward es einen Augenblick still und nachher erhob sich der Lärm von Neuem.

Der Trubel kam näher und näher und erreichte endlich die Stelle, wo der Hochzeitszug Halt gemacht hatte.

Kin-Fo lauschte. Seine Freunde warteten, daß die junge Frau in das Hôtel eintreten sollte.

Dann entstand auf der Straße eine eigenthümliche Bewegung. Näher und deutlicher vernahm man das Schmettern der Trompete.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte Kin-Fo.

Le-U’s Gesichtsausdruck verdüsterte sich. Ein dunkles Vorgefühl ließ ihr Herz stürmischer schlagen.

Jetzt brach ein Menschenstrom in die Straße ein. Alles umringte einen Herold in kaiserlicher Livree, den mehrere Tipaos begleiteten.

Dieser Herold rief unter allgemeinem Schweigen einige Worte aus, auf welche ein Gemurmel antwortete:

»Die verwitwete Kaiserin ist verschieden!

Verbotene Zeit! Verbotene Zeit!«

Kin-Fo begriff Alles. Das war ein Schlag, der ihn empfindlich traf. Er vermochte kaum einen Ausbruch des Zornes zurückzuhalten.

In Folge des Todes der verwitweten Kaiserin hatte der Hof jetzt Trauer bekommen. Während einer durch Gesetz zu bestimmenden Zeit war es Jedermann untersagt, sich den Kopf zu rasiren, öffentliche Feste oder Schaustellungen zu veranstalten, während die Gerichte ihre Sitzungen aussetzten und auch keine Vermählung abgeschlossen werden durfte.

Trostlos, aber ergeben machte Le-U zum bösen Spiele gute Miene, um ihrem Verlobten nicht noch mehr Herzeleid zu bereiten. Sie ergriff die Hand Kin-

»So warten wir noch!« sagte sie mit einer Stimme, in welcher sich doch ihre Erregung nicht ganz verbergen konnte.

Die Sänfte kehrte mit der jungen Frau nach der Cha-Chua-Allee zurück, die Festlichkeiten wurden eingestellt, die Tafeln abgeräumt, die Musik nach Haus geschickt und die Freunde des verzweifelnden Kin-Fo trennten sich, nachdem sie ihm ihr herzliches Bedauern ausgesprochen hatten.

Das kaiserliche Verbot im Geheimen zu übertreten, daran war gar nicht zu denken.

Das Mißgeschick verfolgte Kin-Fo noch immer. Es war für ihn wieder Gelegenheit, sich der weisen Lehren zu erinnern, die er von seinem alten Lehrer erhalten hatte.

Kin-Fo war mit Craig und Fry allein in dem verlassenen Saale des »Hôtels zum Himmlischen Glück« – ein Name, der ihm jetzt als recht bitterer Sarkasmus erschien – zurückgeblieben.

Die Dauer der verbotenen Zeit konnte von dem Sohne des Himmels ganz nach Gutdünken festgesetzt werden. Und er hatte darauf gerechnet, auf der Stelle nach Shang-Haï zurückzukehren, die junge Frau in seinem reichen Yamen einzuführen und unter veränderten Verhältnissen nun ein neues Leben zu beginnen!…

Eine Stunde später trat ein Diener ein, der ihm einen, eben von einem Boten abgegebenen Brief überlieferte.

Kin-Fo, der die Schriftzüge der Adresse erkannte, konnte einen leisen Schrei nicht unterdrücken.