Craig und Fry hatten vorher nur eine Stunde zu den nothwendigsten Vorbereitungen beansprucht, die sie dazu verwendeten, alle denkbaren Rettungsapparate einzukaufen, von dem einfachen Gürtel bis zu der gegen das Versinken sichernden Kleidung des Kapitän Boyton. Kin-Fo war ja noch immer 200.000 Dollars werth. Er begab sich auf’s Meer ohne Zahlung einer Extraprämie, da er ja alle Gefahren versichert hatte. Ein Unglücksfall war dabei nicht gänzlich ausgeschlossen. Man mußte sich also vorsehen und that das auch nach jeder Seite hin.
Am 26. Juni zu Mittag betraten Kin-Fo, Craig, Fry und Soun also den »Peï-Tang« und fuhren mit demselben den Peï-Ho hinab. Der Strom verläuft in so starken Krümmungen, daß die Länge desselben von Tong-Tcheu bis zur Mündung wohl das Doppelte der Luftlinie beträgt; er ist jedoch kanalisirt und auch für Schiffe von großem Tiefgang fahrbar. Der Schiffsverkehr auf demselben ist daher auch sehr lebhaft und übertrifft beiweitem den auf der Landstraße, welche ziemlich parallel mit ihm verläuft.
Rasch glitt der »Peï-Tang« zwischen den Baken des Stromes hinab, peitschte mit seinen Schaufelrädern dessen gelbliche Fluthen und trieb die dem Ufer nachtreibenden Wellen in die Bewässerungskanäle zu beiden Seiten. Bald kam man an dem hohen Thurm einer Pagode in der Nähe von Tong-Tcheu vorüber, welche bei einer scharfen Biegung des Flusses ebenso schnell den Blicken wieder entschwand.
In dieser Gegend ist der Peï-Ho noch nicht besonders breit. Er strömt abwechselnd dahin zwischen sandigen Dünen, kleinen Meiereien, in ziemlich bewaldeter Landschaft mit Obstgärten und lebenden Hecken. Von bedeutenderen Ortschaften liegen an dessen Ufern Matao, He-Si-Vu, Nane-Tsae und Yang-Tsune, wo sich schon der Wechsel von Ebbe und Fluth bemerkbar macht.
Bald zeigte sich Tien-Tsin. Hier gab es einigen Aufenthalt, da erst die öffentliche Brücke geöffnet werden mußte, welche beide Ufer des Stromes verbindet; dazu lagen Hunderte von Schiffen im Hafen, durch welche der Dampfer sich vorsichtig seinen Weg zu bahnen hatte. Da gab es Geschrei von allen Seiten und mancher Barke kostete es ihre Taue, mit denen sie im Strome festgehalten war. Letztere schnitt man übrigens einfach entzwei, ohne zu fragen, ob man Anderen dadurch einen Schaden bereite oder nicht. Natürlich entstand gleichzeitig ein gewaltiger Wirrwarr von stromabwärts treibenden Schiffen, welche den Hafenmeistern von Tien-Tsin ein gut Stück Arbeit verursacht hätten, wenn es hier überhaupt Hafenmeister gegeben hätte.
Es versteht sich von selbst, daß Craig und Fry während der ganzen Fahrt ihren Clienten nicht einen Augenblick aus den Augen ließen.
Es handelte sich ja nicht mehr um den Philosophen Wang, mit dem man sich leicht hätte verständigen können, wenn es nur gelang, ihm die nöthigen Mittheilungen zu machen, sondern um Lao-Shen, einen Taï-Ping, den sie noch nicht einmal kannten und der ihnen deshalb um so gefährlicher erschien. Da man auf dem Wege zu ihm war, hätte man sich hier eigentlich sicher fühlen können, doch wer stand dafür, daß er sich nicht selbst schon aufgemacht hatte, sein Opfer zu suchen? Craig und Fry sahen in jedem Passagier des Peï-Tang einen Mörder! Sie aßen nicht mehr, sie schliefen nicht mehr, sie waren für alles Andere abgestorben!
Waren aber Kin-Fo, Craig und Fry nur sehr unruhig, so verging der arme Soun fast vor Angst. Schon der Gedanke, auf das Meer zu gehen, schnürte ihm das Herz zusammen. Er erbleichte mehr und mehr, je mehr der »Peï-Tang« sich dem Golfe von Pe-Tche-Li näherte. Seine Nase spitzte sich zu und der Mund krampfte sich zusammen, obwohl der Dampfer vollkommen ruhig das Wasser des Stromes durchschnitt.
Was sollte erst daraus werden, wenn Soun die kurzen, stoßenden Wellen eines eingeschränkten Meeres ertragen sollte, bei denen die Schiffe weit heftiger und häufiger stampfen als im freien Ocean!
»Sie waren noch nie auf See? fragte ihn Craig.
– Noch niemals.
– Es bekommt Ihnen wohl nicht? fragte Fry.
– Nein!
– Halten Sie den Kopf immer hoch, sagte Craig.
– Den Kopf?
– Und machen Sie den Mund nicht auf…. setzte Fry hinzu.
– Den Mund?…«
Soun machte den beiden Agenten begreiflich, daß er am liebsten gar nicht spreche, und begab sich nach der Mitte des Schiffes, nicht ohne einen Blick über den jetzt schon sehr breiten Strom geworfen zu haben; jenen melancholischen Blick der Leute, denen man es ansieht, daß sie der für den Zuschauer immer etwas lächerlichen Seekrankheit nicht entgehen werden.
Der Anblick der Landschaft zu den Seiten des Flusses hatte sich allmälich verändert. Das rechte, steilere Ufer contrastirte mit seinen Abhängen merkbar gegen das linke, an dessen flachem Strande eine leichte Brandung schäumte. Jenseits erstreckten sich endlose Felder mit Sorgho, Mais, Weizen und Hirse.
So wie überall in China – eine Mutter, die so viele Millionen Kinder zu ernähren hat – sah man nirgends das kleinste Stückchen kulturfähigen Landes, das brach gelegen hätte. Ueberallhin schlängelten sich Kanäle zur Bewässerung oder waren Bambusgerüste aufgestellt, mit einer Art sehr einfacher Schöpfräder, welche reichliche Wassermengen nach allen Seiten verbreiteten. Da und dort erhoben sich in der Nähe von Dörfern, welche ganz aus gelbem Lehm zu bestehen schienen, vereinzelte Baumgruppen, darunter uralte Apfelbäume, welche auch einer Ebene der Normandie zur Zierde gereicht hätten. An den Ufern tummelten sich eine Menge Fischer, denen Seeraben als Jagdhunde, oder vielmehr als »Fischhunde« dienten. Diese Vögel tauchten nämlich auf das Geheiß ihres Herrn in’s Wasser und bringen die Fische heraus, die sie nicht verschlucken können, weil ihnen ein Ring den Hals halb einschnürt. Daneben fliegen bei dem Geräusch des Dampfbootes Enten, Krähen, Raben, Elstern und Sperber zu Tausenden vom Strande auf.
Bot die Landstraße längs des Flusses jetzt das Bild der Verlassenheit, so nahm der Verkehr auf dem. Peï-Ho eher noch mehr zu. Welche Unzahl von Schiffen jeder Art bewegte sich auf demselben stromauf-oder stromabwärts! Kriegsdschonken mit ihrer Deckbatterie, deren Dach von vorn nach hinten einen tiefen concaven Bogen bildet und welche entweder von zwei Reihen von Rudern oder auch durch von Menschenhänden getriebene Schaufelräder bewegt werden; Zolldschonken mit zwei Masten und Schaluppensegeln, deren Vorder-und Achtersteven die Köpfe und Schwänze phantastischer Thiergestalten schmückten; Handelsdschonken von großem Tonnengehalt, deren plumper Rumpf die kostbarsten Erzeugnisse des Himmlischen Reiches trägt, und welche sich nicht scheuen, den Wirbelstürmen der benachbarten Meere zu trotzen; Personenfahrzeuge, welche je nach den Gezeiten durch Ruder oder Zugseile befördert wurden und die nur für Leute passen, welche viel Zeit übrig haben; Mandarinenboote, Lustjachten, Sampanen, das sind Wohnschiffe jeder Form mit Binsensegeln, von denen die kleinste Art von Frauen gesteuert werden, die das Ruder in der Hand und ein Kind auf dem Rücken tragen, und welche ihren Namen, der eigentlich »drei Planken« bedeutet, vollständig rechtfertigen; endlich ungeheure Holzflöße, wirklich schwimmende Dörfer, mit Hütten, Obst-und Gemüsegärten darauf, welche irgend einem Walde der Mantschurei entstammen, den die Holzfäller bis zum letzten Baum niedergelegt haben. Neben den Ufern kamen Ortschaften nur seltener zum Vorschein. Es giebt auch nur etwa zwanzig zwischen Tien-Tsin und Taku, an der Mündung des Stromes. Dagegen wirbelten aus verschiedenen Ziegeleien schwarze Wolken empor, die sich mit den Rauchsäulen des Dampfes vermengten und die Luft verpesteten. Nun kam der Abend, dem in diesen Breiten eine längere Dämmerung vorhergeht. Bald unterschied man nur noch eine Reihe weißer Dünen, von gleichmäßiger Form und in bestimmten, schon im Halbdunkel verschwindenden Reihen. Das waren nichts als große Salzhausen, die aus den benachbarten Salinen herrührten. In dieser unfruchtbaren trostlosen Gegend öffnete sich die Ausmündung des Peï-Ho, nach Bouroir »ein Stück Land, das nur aus Salz und Sand, aus Staub und Asche besteht«.