In Craig und Fry stieg aber doch ein leiser Verdacht auf, der sie veranlaßte, an jenen eine Frage zu richten.
»Wie kommt Ihr dazu, Euch als Führer anzubieten, und wohin wollt Ihr uns führen?«
Es gab wohl nichts Natürlicheres als diese beiden Fragen, aber auch nichts Natürlicheres als die Antwort, welche darauf erfolgte.
»Ich vermuthe, sagte der Führer, daß Sie die Absicht haben, die Große Mauer zu besuchen, wie alle Reisenden, welche nach Fu-Ning kommen. Ich kenne das Land und erbot mich deshalb als Führer.
– Mein Freund, mischte da Kin-Fo sich ein, ehe wir uns bestimmen können, möchte ich wissen, ob die Provinz sicher ist.
– Vollkommen sicher, antwortete der Führer.
– Spricht man im Lande nicht von einem gewissen Lao-Shen? fragte Kin-Fo.
– Von Lao-Shen, dem Taï-Ping?
– Ja, von ihm.
– Das wohl, erklärte der Führer, doch diesseits der Großen Mauer ist von ihm nichts zu fürchten. Er wird sich nicht auf das kaiserliche Gebiet wagen. Jenseits desselben durchstreift seine Bande die mongolischen Provinzen.
– Weiß man, wo er sich jetzt aufhält?
– Zuletzt soll er in der Gegend von Tchin-Tang-Ro, nur wenige Lis von der Großen Mauer, gesehen worden sein.
– Und wie weit ist es von Fu-Ning bis Tching-Tang-Ro«
– Etwa fünfzig Lis.1
– Gut, ich nehme Eure Dienste an.
»Hurrah!« antwortete Fry. (S. 196.)
– Sie bis an die Große Mauer zu führen?
– Mich nach dem Lager Lao-Shen’s zu bringen!«
In dem Gesicht des Fährers spiegelte sich ein Ausdruck von Verwunderung.
»Ich werde Euch reichlich bezahlen!« setzte Kin-Fo noch hinzu.
Der Fährer schüttelte den Kopf, als fürchte er sich, die Grenze zu überschreiten.
»Bis an die Große Mauer, antwortete er dann, ja; bis darüber hinaus nicht. Dabei setzt man das Leben auf’s Spiel.
Der Zopf blieb ihm in der Hand. (S. 197.)
– So sagt, was Euch das Eurige gilt, ich bezahle es.
– Nun, meinetwegen!« warf der Führer hin.
Kin-Fo wendete sich hierauf an die beiden Agenten.
»Jetzt, meine, Freunde, brauchen Sie mich nicht weiter zu begleiten.
– Wir gehen mit…. erwiderte Craig.
– Wohin Sie gehen!« vervollständigte Fry.
Der Client der »Hundertjährigen« hatte für sie den Werth von zweimalhunderttausend Dollars noch nicht verloren.
Nach obigem Gespräche schienen übrigens die beiden Agenten bezüglich des Führers vollkommen beruhigt. Seiner Aussage nach drohten ernstliche Gefahren ja erst jenseits des Walles, den die Chinesen einst zur Abhaltung mongolischer Horden errichtet haben.
Man rüstete sich nun sofort zum Aufbruch. Soun wurde gar nicht gefragt, ob es ihm gelegen war, weiter mitzuziehen. Er mußte sich eben fügen.
Transportmittel, wie Wagen oder Karren, fehlten gänzlich in dem kleinen Flecken Fu-Ning. Pferde oder Maulesel gab es ebensowenig. Dagegen fand sich eine Anzahl Kameele von den Handelszügen der Mongolen her. Diese kühnen Händler legen den Weg von Peking nach Kiachta nur zu größeren Karawanen vereinigt zurück, wobei sie große Heerden dickschwänziger Hammel vor sich hertreiben. Auf diese Weise unterhalten sie den Verkehr zwischen dem asiatischen Rußland und dem Himmlischen Reiche. Immer betreten sie die weiten Steppen nur in Gesellschaft und stets wohlbewaffnet.
»Es sind wilde und stolze Kerle, schreibt de Beauvoir über sie, welche den Chinesen nur mit Verachtung behandeln.«
Man kaufte also fünf Kameele nebst dem sehr mangelhaften Riemenzeug für dieselben ein. Diese belud man mit Provisionen, besorgte sich einige Waffen und reiste unter Leitung des Führers ab.
Diese Vorbereitungen nahmen aber doch einige Zeit in Anspruch. Erst um ein Uhr Nachmittags war Alles bereit. Trotz dieser Verzögerung versicherte der Führer, daß die Gesellschaft noch vor Mitternacht am Fuße der Großen Mauer eintreffen werde. Dort wollte er für eine Lagerstatt sorgen und am folgenden Morgen, wenn Kin-Fo wirklich auf seinem unklugen Beschlusse beharren sollte, die Grenze überschreiten.
Fu-Ning’s Umgebungen zeigten sich von Hügeln erfüllt. Dicke gelbliche Sandwolken wälzten sich auf den zwischen bebauten Feldern verlaufenden Wegen hin. Man sah hier an Allem, daß das Land noch zu dem fruchtbaren Gebiete des Himmlischen Reiches gehörte.
Die Kameele gingen in abgemessenem, zwar nicht schnellem, aber doch gleichbleibendem Schritte fort. Der Führer nahm die Spitze des Zuges ein, während Kin-Fo, Soun, Craig und Fry, zwischen den Höckern ihrer Reitthiere sitzend, folgten. Soun gefiel diese Art zu reisen ausnehmend; er wäre so bis an’s Ende der Welt mitgegangen.
Wenn das Fortkommen aber nicht beschwerlich war, so brannte dafür die Sonne entsetzlich. Auf den, von der Widerstrahlung des Erdbodens erhitzten Luftschichten entstanden mannigfache Spiegelungen. Weite Wasserstrecken, so groß wie ein Meer, erschienen am Horizont und verschwanden bald darauf zur großen Genugthuung Soun’s, der sich schon von einer neuen Seefahrt bedroht glaubte.
Trotz der Lage dieser Provinz am nördlichen Ende von China, darf man sich dieselbe doch keineswegs öde und verlassen vorstellen. So groß das Himmlische Reich auch ist, reicht es doch nicht für die Volksmenge hin, die sich in ihm zusammendrängt. Deshalb findet man, selbst an den äußersten Grenzen der asiatischen Wüsteneien, immer eine sehr dichte Bevölkerung.
Hier arbeiteten Männer im Felde, dort beschäftigten sich tatarische Frauen, erkennbar an ihrer röthlichen und blauen Kleidung, mit leichteren Arbeiten. Heerden von gelben Schafen mit langen Schweifen – die Soun nicht ohne das Gefühl des Neides sah – weideten an verschiedenen Stellen, beobachtet von einem schwarzen Adler. Weh’ dem unglücklichen Wiederkäuer, der sich von der Heerde trennte! Jene Adler sind gefährliche Raubvögel, welche Schafe und junge Antilopen in den Fängen wegschleppen und den Kirghisen in den Steppen Central-Asiens sogar als Jagdhunde dienen.
Daneben flatterten ganze Wolken von Federwild auf. Ein Gewehr hätte hier hinreichende Beschäftigung gefunden; der echte Jäger konnte aber nur mit Bedauern die Netze, Schlingen und andere, mehr einem Wilddiebe würdigen Fangapparate sehen, welche überall zwischen den Korn-, Mais-und Hirsefeldern den Boden bedeckten.
Kin-Fo und seine Gefährten drangen mitten durch die lästigen Staubwirbel vor. Sie machten niemals Rast, weder an schattigen Stellen des Weges oder an den vereinzelten Meierhöfen, noch in den Dörfern, die sich schon von fern durch die, zu Ehren irgend eines buddhistischen Helden errichteten Grabthürme verriethen. Sie zogen hinter einander hin, geleitet von ihren Kameelen, welche die Gewohnheit haben, eines hinter dem anderen zu gehen, und die das Läuten einer an ihrem Halse befestigten Glocke in gleichmäßigem Tact erhält.
Eine Unterhaltung verbot sich unter diesen Umständen von selbst. Der von Natur wenig gesprächige Führer nahm stets die Spitze des Zuges ein und ließ die Blicke über die Landschaft schweifen, so weit es der dichte Staub erlaubte. Ueber den einzuschlagenden Weg war er nie im Unklaren, selbst an Straßenkreuzungen, wo ihm kein Wegweiser zu Hilfe kam. Wenn Craig und Fry ihr Mißtrauen nach und nach aufgaben, so beobachteten sie dafür den kostbaren Clienten der »Hundertjährigen« desto sorgsamer. Erklärlicher Weise steigerte sich ihre Unruhe, je mehr sie sich dem Ziele näherten. Jeden Augenblick konnten sie ja, ohne in der Lage zu sein, dem zuvorzukommen, einem Menschen gegenüber stehen, der ihnen durch einen wohlgezielten Stoß die anvertrauten zweimalhunderttausend Dollars raubte.
Kin-Fo für seine Person befand sich in jener Gemüthsverfassung, in der die Erinnerung an die Vergangenheit keinem Gedanken an die Zukunft Raum giebt. Er überblickte im Geiste sein Leben während der letzten zwei Monate. Sein beharrliches Mißgeschick flößte ihm doch einige Unruhe ein. Seit dem Tage, an dem sein Correspondent in San-Francisco ihm die Nachricht seines vermeintlichen Ruins übermittelte, hatte ihn ein Unfall nach dem anderen verfolgt. Sollte wohl der zweite Theil seines Lebens wieder gut machen, was er unter Verachtung der Annehmlichkeiten des ersten verloren? Würde diese Reihe von Enttäuschungen noch mit der Wiedererlangung jenes Briefes endigen, der sich jetzt in Lao-Shen’s Händen befand, vorausgesetzt, daß ihn jener ohne Schwierigkeiten herausgab? Und würde es der liebenswürdigen Le-U gelingen, durch ihre Gegenwart, ihre Sorgfalt und Zärtlichkeit die bösen Geister zu besänftigen, die gegen ihn verschworen zu sein schienen? Alles das ging ihm durch den Kopf und verursachte ihm Sorge und Unruhe. Und Wang? Ihm konnte er ja nicht einmal einen Vorwurf machen, ein gegebenes Versprechen haben halten zu wollen; aber Wang, der langjährige Gast des Yamens in Shang-Haï, war ja im besten Falle doch nicht mehr vorhanden, ihm mit seinem weisen Rathe zur Seite zu stehen!