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– Was geht Ihnen die Stunde an?

– Mein Herr, nahm da Craig das Wort, das Interesse unserer Gesellschaft für Lebensversicherung bezüglich ihrer werthen Person….

Der Führer nahm die Spitze des Zuges ein. (S. 202.)

– Erlischt binnen wenig Augenblicken…. fuhr Fry fort.

– Und Sie können sich nun selbst umbringen….

– Oder sich umbringen lassen….

– Wann und wo es Ihnen beliebt!«

»Die Große Mauer!« sagte der Führer. (S. 206.)

Kin-Fo sah verwundert die beiden Agenten an, die ihm das mit dem liebenswürdigsten Tone sagten. Da stieg der Mond über dem östlichen Horizont herauf und traf sie mit seinen ersten Strahlen.

»Ah, der Mond! rief Fry.

– Und heute ist der 30. Juni! sagte Craig.

– Er geht um Mitternacht auf….

– Und da Ihre Police nicht erneuert ist….

– Haben Sie aufgehört, der Client der »Hundertjährigen« zu sein….

– Gute Nacht, Herr Kin-Fo!…. rief Craig.

– Herr Kin-Fo, gute Nacht!« wünschte ihm Fry.

Die beiden Agenten wendeten ihre Kameele um und schwanden bald ihrem verdutzten Clienten aus dem Gesicht.

Kaum waren die Tritte der Kameele, welche die beiden Amerikaner hinwegtrugen, unhörbar geworden, als sich eine von dem Führer befehligte Anzahl Männer auf Kin-Fo, der sich vergeblich zu vertheidigen, und auf Soun stürzte, der vergeblich zu entfliehen suchte.

Einige Minuten später sahen sich Herr und Diener in den unteren Raum einer jener verlassenen Bastionen der Großen Mauer eingesperrt, dessen Thür sorgfältig hinter ihnen geschlossen wurde.

Fußnoten

1 Etwa sieben geographische Meilen.

Zweiundzwanzigstes Capitel.

Welches der Leser hätte selbst schreiben können, da es in kaum unerwarteter Weise endigt.

Die Große Mauer – ein chinesischer Windschirm von vierhundert Meilen Länge – erbaut vom Kaiser Tisi-Chi-Huang-Ti im 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, erstreckt sich vom Golf Leao-Tong, in dem sie ihre beiden Wände eintaucht, bis nach Kan-Su, wo sie in der Größe und Stärke einer gewöhnlichen Steinwand ausläuft. Sie besteht aus einer ununterbrochenen Folge eines doppelwandigen Walles mit Bastionen und Thürmen, in der Höhe von fünfzig und der Breite von zwanzig Fuß, dessen Grund aus Granit, die Außenbekleidung aus Ziegelsteinen hergestellt ist und der sich streng dem Profil der verschiedensten Berge anschließt, welche die Grenze zwischen dem eigentlichen China und der Mongolei und Mandschurei bilden.

Nach der Seite des Himmlischen Reiches hin befindet sich die Mauer in sehr vernachlässigtem Zustande; nach der Mandschurei hin bietet sie noch einen tröstlicheren Anblick und ist sogar fast durchgängig noch von steinernen Zinnen bekrönt.

An Vertheidigungstruppen für diese lange Befestigung oder an Kanonen auf derselben darf man freilich nicht denken. Russen, Tataren, Kirghisen schreiten durch deren Thoröffnungen ebenso unbehindert wie die Söhne des Himmlischen Reiches. Der Windschirm schützt eben die Nordgrenze des Kaiserthums nicht mehr, nicht einmal gegen den seinen mongolischen Staub, den der Nordwind nicht selten bis zur Hauptstadt selbst hinführt.

Durch das Ausfallsthor einer jener verlassenen Bastionen sollten Kin-Fo und Soun nach einer auf Strohlagern erbärmlich verbrachten Nacht am nächsten Tage weiter ziehen unter Bedeckung von etwa einem Dutzend Männern, welche offenbar Lao-Shen’s Bande angehörten.

Der bisherige Führer hatte sich aus dem Staube gemacht. Kin-Fo konnte sich indeß jetzt auf keinen Fall mehr täuschen. Auf diesen Weg leitete ihn jener Verräther gewiß nicht aus reinem Zufall; er hatte den Ex-Clienten der »Hundertjährigen« seiner Zeit sicherlich schon erwartet. Die Weigerung, auch über die Große Mauer hinaus mitzugehen, sollte wahrscheinlich nur jeden etwaigen Verdacht von ihm nehmen. Der Spitzbube war ohne Zweifel nur ein Geselle des Taï-Ping, in dessen Namen und Auftrage er handelte.

Kin-Fo’s Frage an einen der Männer, der die Escorte zu leiten schien, erhob ihm diese Annahme zur Gewißheit.

»Sie führen mich jedenfalls nach dem Lager Lao-Shen’s, Ihres Anführers? wandte er sich an jenen.

– Vor Ablauf einer Stunde werden wir daselbst eintreffen!« bestätigte der Mann.

Nun, und wen suchte der Schüler Wang’s denn zu finden? Nur den Beauftragten des Philosophen. Jetzt führte man ihn ja seinem Ziele entgegen. Ob er freiwillig oder gezwungen dahin gelangte, konnte ihm schließlich gleichgiltig sein. Das Jammern und Klagen darüber überließ er Soun, dem die Zähne klapperten und dem der Kopf zwischen den Schultern nicht mehr festzusitzen schien.

Kin-Fo bewahrte seinen ganzen Gleichmuth und ließ sich willig führen. Endlich sollte er ja dazu gelangen, mit Lao-Shen wegen des Rückkaufes seines Briefes zu verhandeln. Das wünschte er ja. Was hätte er zu klagen gehabt?

Von der Großen Mauer aus folgte die kleine Truppe nicht der Hauptverkehrsstraße der Mongolei, sondern bog auf steile, gewundene Fußstege ein, die sich in den rechten, bergigeren Theil der Provinz hineinschlängelten. Eine Stunde lang zog man, so gut das Terrain es zuließ, raschen Schrittes dahin. Kin-Fo und Soun gingen unter strenger Bewachung in der Mitte, so daß sie nicht hätten fliehen können, woran sie übrigens auch gar nicht dachten.

Nach anderthalb Stunden bekamen Wächter und Gefangene, als sie um einen Bergabhang bogen, ein halbverfallenes Bauwerk zu Gesicht.

Es war eine alte, auf einem Berggipfel errichtete Bonzerie, ein merkwürdiges Denkmal buddhistischer Architektur. Wohl durfte man sich freilich die Frage vorlegen, welche Art von Gläubigen es wagten, diesen Tempel in der Einöde zu besuchen. Vielmehr sah es aus, als ob Jeder, der sich hierher verirrte, in dem unterbrochenen, zu Fallen und Hinterhalten höchst günstigen Terrain das Leben aufs Spiel setzte.

Dagegen mußte zugegeben werden, daß der Tat-Ping, Lao-Shen, wenn er seinen Schlupfwinkel in diese wilde Gegend verlegte, eine sehr zweckentsprechende Wahl getroffen hatte.

Auf eine Anfrage Kin-Fo’s bestätigte der Führer der Escorte, daß Lao-Shen wirklich in jener Bonzerie hauste.

»Ich wünschte ihn sofort zu sehen, sagte Kin-Fo.

– Ja, ja, sofort!« antwortete der Mann.

Nachdem man Kin-Fo und Soun alle Waffen vorsorglich abgenommen, wurden sie in einen geräumigen Vorraum, das Atrium des Tempels, eingeführt. Hier standen etwa zwanzig bewaffnete Männer im malerischen Kostüme der Straßenräuber, deren wilder Gesichtsausdruck nichts Gutes versprach.

Kin-Fo schritt beherzt durch die Doppelreihe der Taï-Ping hin. Soun freilich mußte vorwärtsgedrängt und gestoßen werden, womit er auch nicht verschont wurde.

Vom Hintergrunde dieses Vorraumes aus durchbrach die dicke Umfassungsmauer eine Treppe, deren Stufen weit durch das Bergesinnere hinführten.

Offenbar befand sich also eine Krypte unter dem Hauptgebäude der Bonzerie, nach dem man nur sehr schwierig, oder ohne nähere Kenntniß der unterirdischen Irrgänge vielleicht gar nicht vordringen konnte.

Etwa dreißig Stufen führte jene Treppe nach unten, dann ging es gegen hundert Schritte gerade aus, wobei mehrere Leute von der Escorte mit rauchenden Fackeln leuchteten, und hierauf betraten die beiden Gefangenen einen weiten, ebenfalls von Fackellicht mäßig erleuchteten Saal.

Es war das eine Höhle. Dicke Pfeiler, geschmückt mit grinsenden Köpfen von Ungeheuern, welche der grotesken Fauna der chinesischen Mythologie angehörten, trugen die gedrückte Deckenwölbung, deren Rippen in mächtigen Schlußsteinen zusammenliefen.

In dem unterirdischen Raume erhob sich ein dumpfes Gemurmel beim Eintritte der beiden Fremdlinge.