»Dein Name? fragte ihn Tchung-Heu.
– Wang.«
In der That rettete Tchung-Heu’s Edelmuth damals Wang das Leben, ein Edelmuth, der dem Ersteren den eigenen Kopf gekostet hätte, wenn man vermuthete, daß er einem Rebellen Zuflucht gäbe. Tchung-Heu gehörte aber zu den Männern der alten Zeit, denen jeder Gast heilig war.
Einige Jahre später erlag die Empörung vollständig. Schon 1864 nahm das Oberhaupt der Taï-Ping in Nan-King, wo er residirte, Gift, um nicht den Kaiserlichen in die Hände zu fallen.
Seit dem erwähnten Tage blieb Wang in dem Hause seines Wohlthäters. Ueber seine Vergangenheit verlangte Niemand Ausschluß, Niemand richtete deshalb auch nur eine entfernte Frage an ihn. Vielleicht fürchtete man mehr zu hören, als erwünscht sein mochte. Die durch die Rebellen begangenen Grausamkeiten wurden als wahrhaft fürchterliche geschildert. Ob nun Wang unter dem schwarzen, rothen, gelben oder weißen Banner gedient, wollte man am liebsten nicht wissen, und bestrebte man sich, den guten Glauben zu bewahren, daß er nur dem Verproviantirungs-Heere angehört habe.
Der mit dem ihm zugefallenen Lose so glückliche Wang wurde also der stete Genosse des gastlichen Hauses. Auch nach Tchung-Heu’s Ableben wollte sich der Sohn auf keinen, Fall von ihm trennen, so sehr hatte er sich an die Gesellschaft des liebenswürdigen Mannes gewöhnt.
Wer hätte aber auch zur Zeit des Beginnes unserer Geschichte einen alten Taï-Ping – einen Mörder, Plünderer oder Brandstifter, ganz nach Belieben – in jenem fünfzigjährigen Philosophen, dem Moralprediger mit der Riesenbrille, jenem chinesischen Chinesen mit den schiefen geschlitzten Augen und dem althergebrachten Schnurrbart wieder erkannt? Gab ihm nicht sein langes Oberkleid von wenig auffallender Färbung, sein in Folge von Fettleibigkeit etwas nach oben gerutschter Gürtel, die nach kaiserlicher Vorschrift geordnete Frisur nebst der Kopfbedeckung, das heißt einer Art Pelzhut, von dessen Rande eine Quaste von rothen, Fäden herabhing, vollkommen das Aussehen eines würdigen Professors der Weltweisheit, eines jener Gelehrten, die sich aller 80.000 Zeichen der chinesischen Schrift mit Geläufigkeit zu bedienen wissen, eines Eingeweihten der höheren Sprachweise, eines mit Auszeichnung Geprüften, der damit das Recht erlangt hatte, in Peking durch das große, nur für bevorzugte Söhne des Himmels reservirte Thor zu gehen?
Vielleicht hatte der frühere Rebell, seine blutige Vergangenheit vergessend, sich im Umgange mit dem wackeren Tchung-Heu zähmen gelernt und war allmälich auf den Weg der speculativen Philosophie übergeleitet worden. So waren auch an jenem Abend Kin-Fo und Wang, die sich niemals trennten, bei dem geschilderten Abschiedsschmaus zusammen in Canton und gingen ebenso miteinander längs der Quais hin, um den Dampfer aufzusuchen, der sie in kurzer Zeit wieder nach Shang-Haï zurückführen sollte.
Kin-Fo wanderte schweigsam, selbst etwas sorgenvoll dahin. Wang blickte weder nach rechts, noch nach links, philosophirte über den Mond und die glitzernden Sterne, ging lächelnd durch das »Thor der ewigen Reinheit«, das er für sich nicht zu hoch fand, ferner durch das »der ewigen Freude«, dessen Flügel nur für ihn geöffnet schienen, und verschwand endlich im Schatten der Thürme der Pagode »Zu den fünfhundert Gottheiten«.
Hier lag der Steamer »Perma« schon unter Dampf. Kin-Fo und Wang nahmen die beiden für sie aufbewahrten Cabinen ein. Die rasche Strömung des Perlenflusses, der mit seinem Schlamme täglich die Leichname Hingerichteter dem Meere zuwälzt, verlieh dem Schiffe eine außerordentliche Schnelligkeit. Einem Pfeile gleich, flog der Dampfer vorüber an Ruinen, welche von den Kanonen Frankreichs herrührten, vor der neun Etagen hohen Pagode Haf-Way’s, vor der Jardyne-Spitze, nahe bei Whampoa, wo die größeren Schiffe vor Anker gehen, und zwischen den Inseln und Bambusdickichten der beiden Ufer dahin.
Die hundertfünfzig Kilometer, das heißt die dreihundertfünfundsiebzig »Lis«, welche Canton von der Mündung des Stromes trennten, wurden im Laufe der Nacht zurückgelegt.
Mit Sonnenaufgang passirte die »Perma« den »Rachen des Tigers« und endlich die beiden Hafenmauern an der Küste. Einen Augenblick leuchtete der 1825 Fuß hohe Victoria-Peak der Insel Hong-Kong durch den Morgennebel, und nach ungemein günstiger Ueberfahrt dampften Kin-Fo und unser Philosoph erst in dem gelblichen Wasser des Blauen Flusses hinauf und landeten endlich in Shang-Haï, an dem zur Provinz Kiang-Nan gehörigen Ufer.
Drittes Capitel.
In dem der Leser ohne Beschwerde eine Ueberblick über die Stadt Shang-Haï gewinnt.
Ein chinesisches Sprichwort sagt:
Die beiden Freunde gingen langsamen Schrittes über den Quai. (S. 22.)
»Wenn die Säbel rosten, glänzen die Spaten –
»Wenn die Kerker leer werden, füllen sich die Speicher –
»Wenn die Tempelstufen von den Tritten der Gläubigen abgenützt und die Gerichtshoftreppen mit Gras bedeckt sind –
»Wenn die Aerzte zu Fuße gehen und die Fleischer reiten –
»Dann ist das Reich am besten verwaltet.«
Das Spichwort ist gut. Man könnte es wohl mit demselben Rechte auf alle Staaten der Alten und Neuen Welt anwenden. Wenn es aber überhaupt einen giebt, wo dieser fromme Wunsch seiner Erfüllung am fernsten ist, so ist
das vor Allem das Himmlische Reich. Hier glänzen die Säbel und rosten die Spaten, hier strotzen die Kerker von Unglücklichen und leeren sich die Speicher. Die Fleischer gehen weit mehr zu Fuß als die Aerzte, und wenn auch die Pagoden noch fromme Seelen anlocken, so fehlt es dagegen auch den Gerichtshöfen niemals weder an Anklägern, noch an Vertheidigern.
Uebrigens kann ein Reich von 180.000 Quadratmeilen, das von Norden nach Süden über 800, von Osten nach Westen mehr als 900 Meilen mißt, das ohne die Tributärstaaten, die Mongolei, Mantschurei, Tibet, Tonking, Korea, die Inseln Liu-Tchu u.a.m., allein achtzehn ungeheuere Provinzen umfaßt, ein solches Reich kann wohl auch niemals tadellos verwaltet werden.
Der Sien-cheng wendete die Karte um. (S. 29.)
Wenn die Chinesen darüber nur einen leisen Zweifel hegen, so sind alle Fremden in dieser Hinsicht vollkommen einig. Höchstens der Kaiser allein, der in seinem Palaste eingeschlossen lebt und nur sehr selten durch dessen, von einer dreifachen Stadtmauer beschützten Thore herauskommt, dieser Sohn des Himmels, der Vater und die Mutter seiner zahllosen Unterthanen, dem durch das Recht der Geburt die Einkünfte des Reiches zufließen, dieser Selbstherrscher, der nach Belieben Gesetze giebt oder aufhebt, dem das Recht über Leben und Tod Aller zusteht und vor dem sich alle Stirnen in den Staub beugen – nur er allein ist vielleicht der Meinung, daß hier Alles besser geordnet ist als in der übrigen Welt. Es wäre auch vergeblich, ihn davon überzeugen zu wollen, daß er sich irre. Ein Sohn des Himmels irrt sich eben niemals.
Von Kin-Fo war man fast versucht zu glauben, daß er die europäische Regierungsweise der chinesischen vorzog. So wohnte er schon nicht in Shang-Hat, sondern außerhalb auf dem Gebiete der englischen Niederlassung, die sich eine gewisse Autonomie zu bewahren gewußt hat.
Die eigentliche Stadt Shang-Haï liegt am linken Ufer des kleinen Flusses Huang-Pu, der sich rechtwinkelig mit dem Wusung vereinigt und in den Yantse-Kiang oder Blauen Fluß ausmündet, der dem Gelben Meere zuströmt.
Sie bildet ein von Norden nach Süden verlaufendes Oval und hat in ihren hohen Mauern fünf nach den Vorstädten führende Thore. Ein unentwirrbares Netz mit groben Steinen gepflasterter Straßen, welche unsere modernen Reinigungsmaschinen bald verderben würden; dunkle Läden ohne Vorbau oder Schaufenster, in denen sich halbnackte Händler bewegen; kein Wagen, kein Palankin und nur selten ein Reiter; einige Tempel der Einheimischen neben Kapellen der Ausländer; an Stelle von Spaziergängen nichts als ein »Theegarten« und ein ziemlich morastiger Paradeplatz auf ausgefülltem Lande, das früher Reisplantagen einnahmen und dem noch heute sumpfige Gase entströmen; und in jenen Straßen mit ihren schmalen, aber tiefen Häusern eine Bevölkerung von über 200.000 Seelen – das ist das Bild dieser, bezüglich ihrer Wohnlichkeit wenig einladenden, für den Handel aber doch ungemein wichtigen Stadt.