Braithwaite nickte. Hewlitts Anwort auf die höfliche und scheinbarunschuldige Frage machte deutlich, daß ihn die Nähe eines Terrestriers nicht ängstigte. Diese Tatsache war für die psychologische Arbeit sehr nützlich, weil dadurch ein möglicher Problembereich bereits ausgeschlossen wurde. Durch jahrelange Erfahrung wußte Hewlitt, was der Lieutenant vorhatte, und der wiederum war wahrscheinlich intelligent genug, um zu wissen, daß er von seinem Patienten durchschaut wurde.
»Wir beide wissen, daß Ihr Fall kompliziert ist«, fuhr Braithwaite fort und schielte dabei auf Hewlitts Sensorenmeßgerät. »Sie machen den Eindruck, völlig gesund zu sein, obwohl Sie unter einer periodisch auftretenden und unerklärlichen Krankheit leiden, die sogar, sollte der Herzstillstand ein Symptom sein, lebensgefährlich ist. Wir wissen auch, daß sich eine ernste körperliche Erkrankung entsprechend auf die Psyche auswirken kann und umgekehrt, selbst wenn zunächst einmal keine offensichtliche Verbindung erkennbar ist. Ich möchte gern diese Verbindung finden und identifizieren, falls es überhaupt eine gibt.«
Braithwaite wartete, bis Hewlitt schließlich argwöhnisch nickte, bevor er weitererzählte: »Normalerweise wird jemand in dieses Krankenhaus eingeliefert, weil er, sie oder es krank oder verletzt ist. Das Problem und die klinische Behandlung stehen zumeist von Anfang an fest, und die hier beschäftigten Ärzte können die Einrichtungen des führenden Krankenhauses der Föderation nutzen, um die Patienten zu behandeln und sie in den meisten Fällen wieder gesund nach Hause zu schicken. Wenn dem Problem allerdings eine psychologische Komponente zugrunde liegt, dann muß man eben… «
»… darüber reden«, beendete Hewlitt den Satz.
»Richtig, wobei es mir als Psychologen allerdings besser zu Gesicht steht, wenn ich zuhöre«, schränkte Braithwaite ein. »Deshalb hoffe ich auch, daß Sie gleich das Reden übernehmen. Sie sollten damit beginnen, alle ungewöhnlichen Begebenheiten oder Umstände zu beschreiben, an die Sie sich erinnern können, bevor die ersten Beschwerden auftraten. Erzählen Sie mir, wie Sie als Kind damals über Ihre Situation gedacht haben, und nicht, wie sich Ihre Ärzte und Angehörigen später darüber geäußert haben. Also,nur zu, Sie erzählen, und ich höre zu.«
»Sie wollen, daß ich Ihnen alles über den Zeitraum berichte, in dem ich nicht krank war?« hakte Hewlitt nach. Dann deutete er mit einem Nicken in Richtung der Küche, aus der die mit Essenstabletts beladenen Servierwagen auftauchten, und fügte hinzu: »Dafür haben wir leider keine Zeit mehr… es gibt jetzt nämlich Mittagessen.«
Braithwaite seufzte. »Ich möchte dieses Gespräch so schnell wie möglich mit Ihnen zu Ende führen, falls Medalont, der für Sie verantwortlich ist, nichts dagegen hat. Würden Sie mir einen Gefallen tun und für mich ein Essen mit bestellen? Nichts Spezielles, mir reicht es völlig, wenn ich das kriege, was man Ihnen bringt.«
»Aber Sie sind doch kein Patient«, entgegnete Hewlitt verdutzt. »Gestern habe ich zum Beispiel gehört, wie Leethveeschi zu einem Assistenzarzt gesagt hat, er solle gefälligst kein fauler Scrassug sein, was auch immer das sein mag, und zur Personalkantine gehen, anstatt sich das Essen aus der Stationsküche zu stibitzen. Deshalb glaube ich auch nicht, daß die Oberschwester so etwas erlauben wird.«
»Keine Sorge, die Oberschwester wird's bestimmt erlauben, wenn Sie sie erst einmal darum bitten, mit Ihr über eine persönliche Angelegenheit zu sprechen, die Ihrer Meinung nach wichtig ist«, versicherte ihm der Lieutenant. »Nach dem medizinischen Drama vor fünf Stunden wird sie es nicht riskieren wollen, Ihnen diesen Wunsch abzuschlagen. Wenn sie dann kommt, sagen Sie ihr das, was Sie ihr schon die ganze Zeit sagen wollten; daß es Ihnen nämlich leid tut, sie falsch eingeschätzt zu haben, und Sie ihr dankbar sind, daß sie Ihnen das Leben gerettet hat. Danach erzählen Sie ihr, Sie hätten das Gefühl, unser Gespräch könne wichtig für Ihren Gesundheitszustand sein, und ob es möglich wäre, noch eine zweite DBDG-Mahlzeit für mich zu bestellen, um die Unterhaltung ohne Unterbrechung fortführen zu können.
Illensaner erhalten eine Menge Komplimente vom Klinikpersonal, weil sie sehr gute Arbeit leisten«, fuhr Braithwaite fort. »Allerdings weniger von den Patienten, weil diese sich nur selten lange genug hier aufhalten, um dieguten Seiten an diesen Wesen schätzen zu lernen. Das liegt sicherlich daran, daß Illensaner der einzigen chloratmenden Spezies angehören, die darüber hinaus allgemein als die häßlichste der Föderation angesehen wird. Wenn Sie das machen, was ich Ihnen gesagt habe, wird Leethveeschi viel zu überrascht und zu geschmeichelt sein, um Ihnen noch irgendeinen Wunsch abschlagen zu können.«
Hewlitt schwieg einen Augenblick lang, ehe er antwortete: »Lieutenant, Sie sind ein egoistischer, hinterhältiger und berechnender Mist… ahm… ein hundsgemeiner Scrassug.«
»Natürlich, schließlich bin ich Psychologe«, stimmte ihm Braithwaite grinsend zu.
Allein bei dem Gedanken, diese grauenvolle Leethveeschi an sein Bett rufen zu müssen, geriet Hewlitt ins Schwitzen. »Zwar habe ich schon selbst darüber nachgedacht, ihr so etwas in der Richtung zu sagen, aber erst später«, wehrte er sich. »Ich brauche noch etwas mehr Zeit, um das nervlich zu verkraften.«
Braithwaite schüttelte lächelnd den Kopf und deutete mit aufforderndem Blick auf den Kommunikator.
7. Kapitel
Die erste ungewöhnliche Begebenheit, die ihm als Kind widerfahren war und an die er sich am besten erinnern konnte, hatte sich einige Tage nach seinem vierten Geburtstag ereignet. Seine Eltern arbeiteten damals zu Hause an in getrennten Räumen stehenden Terminals und waren sich sicher, nicht gestört zu werden, weil jeder vom anderen glaubte, er würde auf Hewlitt aufpassen. Deshalb gingen beide davon aus, daß ihr Sprößling sein Zimmer nicht unbeobachtet verlassen könnte.
Normalerweise hätte es damit auch keine Probleme gegeben, denn er war an seinem eigenen kleinen Computerterminal viel zu beschäftigt, um auf dumme Gedanken zu kommen. Er experimentierte mit dem Malprogramm und dem neuesten Bildungsabenteuerspiel, das er zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Doch an jenem Tag war er unruhig und gelangweilt, denn der Lerninhalt des Spiels nahm überhand und behinderte die Abenteuerlust, und das hohe, weit offen stehende Zimmerfenster verhieß weit unterhaltsamere Dinge zu versprechen, die man im Garten treiben könnte.
Unglücklicherweise waren seine Eltern von zwei weiteren falschen Voraussetzungen ausgegangen: erstens, daß er nicht aus dem Fenster klettern würde, weil er so etwas noch nie zuvor getan hatte, und zweitens, daß ihr Garten, falls er es dennoch ausprobieren sollte, außerdem einen kindersicheren Zaun hatte.
Hinter dem Gartenzaun war die Welt sehr aufregend und, was er zu jenem Zeitpunkt noch nicht wußte, zudem sehr gefährlich. Die ganze Gegend war durch eine große Schlacht im Bürgerkrieg verwüstet worden, der einst ausgelöst worden war, als die aufbegehrende Planetenbevölkerung die Regierung stürzen wollte, die einen interplanetarischen Krieg geführt und verloren hatte. Die bewußt irregeleitete Bevölkerung hatte einen solchen Krieg, bei dem etliche Einheimische während der Schlachten verletzt oder gar getötet worden waren, niemals gewollt.Nachdem man die Gegend mit Sensoren abgesucht und alle scharfen Geschütze und einsatzfähigen Kriegsfahrzeuge entfernt hatte, waren einige der zertrümmerten Häuser von außerplanetarischen Beratern und Wiederaufbauspezialisten, zu denen auch Hewlitts Eltern gehörten, instandgesetzt und bezogen worden. Die kaputten und vor sich hin rostenden Überreste hatte man einfach an Ort und Stelle stehen- und liegenlassen. Wie die Häuserruinen waren sie nicht nur rasch von den wildwachsenden Pflanzen erobert worden, die am Ende stets die Sieger aller Kriege sind, sondern auch von einem kleinem Jungen.