Da er als einziger keine Medikamente bekam, wurde er auch als letzter Patient konsultiert. Die hudlarische Schwester mußte lediglich die Sensorenverbindungen zu seinem Überwachungsmonitor überprüfen und hätte bis zu ihrer nächsten Runde in zwei Stunden nichts weiter zu tun, als den Zustand der schlafenden Patienten zu kontrollieren, es sei denn, es würde ein Notfall eintreten. Vor ihr lag eine lange Nachtschicht, und Hewlitt hoffte, ihre Langeweile unterbrechen und seine Neugier durch einige Fragen befriedigen zu können.
»Versuchen Sie heute abend einmal, nicht den Bildschirm einzuschalten«, riet ihm die Hudlarerin. »Oberschwester Leethveeschi hat mir nämlich erzählt, Sie hätten heute schon genug Aufregung gehabt. Beim Kartenspielen vergeht die Zeit wie im Flug, und es freut mich sehr, daß Sie sich mit Patienten fremder Spezies angefreundet haben. Aber jetzt müssen Sie schlafen.«
»Ich werde es versuchen, Schwester, aber etwas macht mir Sorgen.«
»Haben Sie etwa Schmerzen?« erkundigte sich die Schwester besorgt und kam sofort näher an das Bett heran. »Ihre Sensordaten zeigen einen optimalen Zustand Ihrer Lebenszeichen an. Falls Sie allerdings Beschwerden haben sollten, beschreiben Sie mir die Symptome bitte so genau wie möglich.«»Entschuldigen Sie, Schwester, aber ich habe mich wohl nicht richtig ausgedrückt, es hat nämlich nichts mit meinem körperlichen Zustand zu tun. Ich habe im Laufe des Tages eine andere Patientin gekränkt, und zwar die Kelgianerin Morredeth, aber ich weiß nicht, was an dem, was ich gesagt oder getan habe, so Beleidigendes gewesen sein soll. Wir haben zu viert Scremman gespielt, und die anderen beiden haben anscheinend versucht, mir nonverbal mitzuteilen, daß ich damit aufhören solle. Ich würde gern wissen, was ich falsch gemacht habe, damit ich einen solchen Fehler nicht wiederhole und mich entschuldigen kann, falls es etwas Ernsthaftes gewesen sein sollte.«
Obwohl die Schwester keinerlei Regungen zeigte, die er identifizieren konnte, wirkte die Hudlarerin nun entspannter, als sie antwortete: »Ich glaube nicht, daß es etwas ist, worüber man sich Sorgen machen müßte, Patient Hewlitt. Während eines Scremmanspiels, das sich wie bei Ihnen, so wurde mir jedenfalls berichtet, über mehrere Stunden erstreckt, ist der Austausch beleidigender und kritisierender Äußerungen allgemein üblich… «
»Das ist mir allerdings nicht entgangen«, warf Hewlitt ein.
»…und solche verbalen Attacken sind beim nächsten Spiel längst vergeben. Vergessen Sie einfach den Vorfall, so, wie es die anderen bereits getan haben. Sie können also ganz beruhigt einschlafen.«
»Das ist aber anders abgelaufen«, widersprach Hewlitt. »Diese Äußerungen fielen nämlich während der Spielpausen, und vor allem während wir gegessen haben.«
Die Hudlarerin schwieg für einen Moment, während Sie an den beiden Bettreihen auf der Station entlangblickte. Außer Hewlitt schienen alle zu schlafen, also gab es derzeit für sie nichts Dringenderes zu tun. Hewlitt freute sich und schämte sich auch ein bißchen über seine neu entdeckte Fähigkeit, diesem Monster seinen Willen aufzuzwingen.
»Also gut, Patient Hewlitt. Worüber haben Sie sich denn mit den anderen unterhalten? Und können Sie sich an die Bemerkung erinnern, über die sich Patientin Morredeth so geärgert hat?«»Wie ich Ihnen schon gesagt habe, weiß ich das nicht so genau«, entgegnete Hewlitt. »Ich habe lediglich über ein kleines, pelziges Tier – ein terrestrisches Haustier - gesprochen und es beschrieben… Haben Hudlarer eigentlich auch Haustiere? Ich habe als Kind immer gern damit gespielt. Nichts von dem, was ich gesagt habe, schien Morredeth zu verärgern, bis sie mir völlig unvermittelt vorwarf, ich würde schlüpfrige Sachen erzählen, woraufhin Bowab ihr ebenso unverhofft zustimmte. Ich dachte, die beiden würden scherzen, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.«
»In ihrem gegenwärtigen Zustand ist Patientin Morredeth, bezüglich ihres Fells ungewöhnlich empfindlich«, erklärte ihm die Schwester, wobei die Sprechmembran so vibrierte, daß es einem hudlarischen Flüstern gleichkam. »Aber das konnten Sie natürlich nicht wissen. Sagen Sie mir doch bitte, worüber Sie genau gesprochen haben.«
Plötzlich fragte sich Hewlitt, ob es möglich sein könnte, daß nicht er die Schwester, sondern sie ihn ausnutzte. Vielleicht war sie ja sogar ganz froh darüber, sich die langweilige Nachtschicht interessanter zu gestalten, indem sie einem besorgten Patienten nichtmedizinische Hilfe leistete. Wahrscheinlich könnte sie diese Unterhaltung, die sich zu einem längeren Mitternachtsschwätzchen zu entwickeln schien, sogar gegenüber Oberschwester Leethveeschi rechtfertigen. Er ließ sich viel Zeit und wiederholte alles, bis er an dem Punkt anlangte, wo er den anderen das Verhalten seiner Katze beim Streicheln beschrieben hatte. Zwar war er der festen Überzeugung, daß ein Wesen, dessen Haut wie elastischer Stahl war, bei Ausdrücken wie ›Fell‹ oder ›Pelz‹ keine erotischen Phantasien bekommen würde, doch am Orbit Hospital konnte man sich anscheinend über nichts und niemanden sicher sein.
Als er zu Ende erzählt hatte, meinte die Schwester: »Jetzt verstehe ich. Doch bevor ich zu erklären versuche, was passiert ist, erzählen Sie mir bitte, was Sie über die kelgianische Lebensform wissen.«
»Ich kenne nur die Informationen, die in den kurzen Einführungspassagen der nichtmedizinischen Bibliothek über die Mitglieder der Föderation geliefert werden, wobei es sich in erster Linie um historisches Materialhandelt«, antwortete Hewlitt. »Die Kelgianer gehören der physiologischen Klassifikation DBLF an. Sie sind mehrfüßige Warmblüter und haben einen zylinderförmigen Körper, der vollständig mit einem beweglichen, silbergrauen Fell bedeckt ist. Dieses Fell ist ständig in Bewegung, wenn das Wesen bei Bewußtsein ist, und im geringeren Ausmaß auch dann, wenn es träumt.
Aufgrund der Unzulänglichkeiten des kelgianischen Sprechorgans mangelt es diesen Wesen an Modulationsmöglichkeiten oder an sonstigen emotionalen Ausdrucksweisen der Stimme. Allerdings gleichen sie diese Defizite mit dem Fell aus, das, soweit ein anderer Kelgianer betroffen ist, perfekt und unwillkürlich den Gefühlszustand des Sprechenden widerspiegelt. Infolgedessen können sie nicht lügen, und Begriffe wie Diplomatie, Taktgefühl oder Höflichkeit sind ihnen völlig fremd. Kelgianer sagen immer genau das, was sie denken oder fühlen, weil das Fell ohnehin ihre Emotionen alle Augenblicke widerspiegelt und es eine dumme Zeitverschwendung wäre, wenn sie es nicht täten. Habe ich soweit recht?«
»Ja«, bestätigte die Hudlarerin. »Wenngleich die medizinischen Bibliotheksdaten für Sie diesbezüglich von mehr Nutzen gewesen wären. Hat Morredeth ihren Gesundheitszustand Ihnen gegenüber denn genauer erörtert?«
»Nein. Als ich sie danach gefragt habe, sagte sie, daß sie nicht darüber reden wolle. Ich bin natürlich neugierig gewesen, ließ das Thema aber rasch fallen, da ich es für möglich hielt, daß ihre Gebrechen peinlich für sie sein könnten und mich das Ganze sowieso nichts anging.«
»Manchmal möchte Patientin Morredeth nicht über ihre Sorgen sprechen, und dann gibt es wieder Zeiten, da will sie unbedingt darüber reden. Wenn Sie sie morgen oder übermorgen danach fragen, wird sie Ihnen wahrscheinlich in allen Einzelheiten ihren Unfall schildern und auch die sich daraus ergebenden langfristigen Folgen, die für sie zwar sehr ernst, aber nicht lebensgefährlich sind. Ich sage Ihnen das nur, da fast jeder auf der Station über Morredeths Probleme Bescheid weiß. Deshalb breche ich der Patientin gegenüber auch nicht die Schweigepflicht, wenn ich diephysischen und emotionalen Aspekte ihres Krankheitszustandes mit Ihnen bespreche.«