»Ich verstehe«, murmelte Hewlitt nachdenklich.
»Nein, das können Sie gar nicht«, widersprach die Hudlarerin, wobei sie noch näher an das Bett herantrat und im selben Verhältnis die Stimme senkte. »Aber gleich werden Sie das verstehen. Falls Sie einige der von mir verwendeten Fachbegriffe nicht kennen, was angesichts Ihrer Krankengeschichte und der Erfahrungen, die Sie während Ihrer vorangegangenen Klinikaufenthalte gesammelt haben, unwahrscheinlich ist, dann unterbrechen Sie mich bitte, damit ich Ihnen eine für Laien verständliche Erklärung geben kann. Soll ich anfangen?«
Während Hewlitt den wuchtigen Körper der Schwester musterte, der auf den sechs Tentakeln ausbalanciert wurde, fragte er sich, ob es überhaupt irgendeine intelligente Spezies im All gab, die es – ganz unabhängig von ihrer Größe, Gestalt oder Anzahl der Gliedmaßen - nicht genoß, ein nettes Schwätzchen zu halten.
Da er sich jedoch daran erinnerte, was ihm ein paar unüberlegte Worte für Probleme mit Morredeth eingebracht hatten, stellte er diese Frage lieber nicht laut.
»Das Wichtigste, was Sie über die Anatomie der Kelgianer wissen sollten, ist, daß die DBLF-Klassifikation mit Ausnahme des dünnwandigen Schädelgehäuses, in dem sich das Gehirn befindet, kein Knochengerüst besitzt«, fuhr die hudlarische Schwester in demselben Ton fort, den Chefarzt Medalont bei seinen Auszubildenden anzuschlagen pflegte. »Der kelgianische Körper wird von einem aus Muskelbändern bestehenden äußeren Zylinder zusammengehalten. Abgesehen davon, daß er die Fortbewegung unterstützt, dient er auch als Schutz für die lebenswichtigen Organe. Für Wesen wie uns, deren Körper großzügig durch ein Knochengerüst verstärkt werden, scheint dieser Schutz bei weitem nicht ausreichend zu sein. Im Fall einer Verletzung ist das komplexe und äußerst anfällige Kreislaufsystem ein schwerwiegender Nachteil. Die gewaltigen Muskelstränge, die den ganzen Körper umschließen, werden durchBlutgefäße versorgt, die wie die Nervenverbindungen, die das bewegliche Fell kontrollieren, direkt unter der Haut entlangführen. Das dicke Fell bietet zwar etwas Schutz, jedoch nicht gegen solch tiefe Fleisch- und Rißwunden wie sie sich Patientin Morredeth zugezogen hat, als sie bei einer Weltraumkollision gegen ein Hindernis aus unebenem Metall geschleudert wurde …«
Wie die Schwester weiterhin ausführte, konnte eine Verletzung, die bei den meisten anderen Spezies nur oberflächlich gewesen wäre, bei Kelgianern bereits innerhalb weniger Minuten zum Verbluten führen.
Das blutgerinnungsfördernde Mittel, das gleich nach dem Unfall verabreicht worden war, hatte die Blutung unter Kontrolle gebracht und somit Morredeth das Leben gerettet, wenngleich zu einem hohen Preis. Auf dem Ambulanzschiff und später im Krankenhaus waren die wichtigsten verletzten Blutgefäße operiert worden, aber selbst das auf DBLF-Mikrochirurgie spezialisierte Ärzteteam des Orbit Hospitals war nicht in der Lage gewesen, die Kapillargefäße und die Nervenbahnen des vernichteten oder beschädigten Fells zu retten. Infolgedessen würde Morredeths wunderschönes Fell, das zum einen für das Tastgefühl wichtig war und zum anderen während der Liebeswerbung und der Vorbereitung auf die Paarung eine ästhetisch bedeutende Rolle spielte, an der betroffenen Stelle nie wieder richtig nachwachsen. Sollte es das wider Erwarten doch tun, wäre das Fell steif, vergilbt und leblos und deshalb optisch für ein anderes kelgianisches Wesen – egal, ob nun männlich oder weiblich – schrecklich abstoßend.
Zwar wäre es möglich gewesen, den beschädigten Bereich mit künstlichem Fell abzudecken, aber dem synthetischen Material würde die Beweglichkeit und der seidene Glanz des echten Pelzes fehlen, und das könnte man auf den ersten Blick erkennen. Kelgianerinnen in Morredeths Situation waren normalerweise viel zu stolz, um mit solch einer Pelzimitation gesehen zu werden, und deshalb entschieden sie sich, lieber in der Einsamkeit oder nur mit einem Minimum an sozialem Kontakt zu leben und zu arbeiten.»… insbesondere die männlichen Kelgianer, die dem Klinikpersonal angehören, haben mir schon des öfteren erzählt, Morredeth sei eine besonders gutaussehende junge Frau oder, besser gesagt, sei es mal gewesen«, fuhr die Hudlarerin fort. »Auf jeden Fall habe sie nun keine Hoffnung mehr, sich zu paaren und ein normales Leben zu führen. Deshalb hat sie gegenwärtig auch eher ein emotionales als ein medizinisches Problem.«
»Und ich Trottel mußte ihr ausgerechnet von dem schönen Fell meiner Katze erzählen!« stöhnte Hewlitt, dem vor Verlegenheit ganz heiß geworden war. »Es wundert mich nur, daß Morredeth mir keine runtergehauen hat. Gibt es denn wirklich nichts mehr, was man für Sie tun kann? Meinen Sie, daß ich mich bei ihr entschuldigen sollte, oder würde das die ganze Angelegenheit nur noch verschlimmern?«
»Nur wenige Tage nach Ihrer Einlieferung hier ins Hospital scheinen Sie sich ja bereits mit Horrantor, Bowab und Morredeth mehr oder weniger angefreundet zu haben«, stellte die Hudlarerin fest, ohne auf seine Frage einzugehen. »Die erste Zeit haben Sie noch Symptome einer schwerwiegenden Xenophobie gezeigt, die aber kurz darauf verschwunden sind. Falls es sich dabei um eine ehrliche Reaktion auf Ihre erste freundschaftliche Kontaktaufnahme mit einer Gruppe Aliens handelt und nicht nur um ein aus Höflichkeit heraus gespieltes Theater, um sich auf diese Weise leichter mit einer nervenaufreibenden Situation abzufinden, an der Sie sowieso nichts ändern können, dann bin ich von Ihrer Anpassungsfähigkeit sehr beeindruckt. Dennoch finde ich Ihr Verhalten, das Sie seit kurzem an den Tag legen, ziemlich verwunderlich.«
»Ich spiele doch kein Theater!« protestierte Hewlitt sofort. »Und schon gar nicht aus irgendeiner falsch verstandenen Höflichkeit heraus. Höchstwahrscheinlich liegt es daran, daß ich der einzige gesunde Patient auf dieser Station und entsprechend gelangweilt und neugierig bin. Außerdem sind Sie es selbst gewesen, die mir von Anfang an geraten hat, ich solle versuchen, mich mit den anderen Patienten zu unterhalten. Sämtliche Aliens sahen und sehen für mich noch immer so aus, als würde ich selbst imWachzustand noch unter Alpträumen leiden. Trotzdem wollte ich diese Aliens aus einem für mich unerfindlichen Grund unbedingt kennenlernen, was mich übrigens genauso wundert wie Sie.«
Die Sprechmembran der Schwester vibrierte leicht, doch zu langsam, um irgendwelche Wörter zu formulieren, und Hewlitt fragte sich, ob es sich dabei um die hudlarische Variante eines unentschlossenen Stotterns handelte. Schließlich sagte sie: »Um Ihre frühere Frage zu beantworten: Es gibt nichts, was man noch anderes für Morredeth tun könnte, als ihre Verbände zu wechseln, wodurch die Wunde zwar heilen wird, ohne jedoch die Schäden an dem unter der Haut liegenden Nervengeflecht beheben zu können. Außerdem muß die nichtmedizinische Behandlung fortgeführt werden, die von Chefarzt Medalont auf den Vorschlag von Padre Lioren hin verordnet wurde, der die Patientin bis jetzt jeden Tag besucht hat. Heute ist er auf der Station gewesen, ist aber im Personalraum geblieben, um von dort aus der Unterhaltung zuzuhören, die durch Ihre Sensorenmeßgeräte übertragen wurde, bevor er…«
»Er hat einfach unser Privatgespräch belauscht?« empörte sich Hewlitt. »Das… das kann er doch nicht machen! Ich wußte gar nicht, daß mein Meßgerät auch dazu benutzt werden kann. Ich… wir haben vielleicht etwas gesagt, was andere nicht hören sollten.«
»Und ob Sie das getan haben«, bestätigte die Schwester, »aber Leethveeschi ist daran gewöhnt, abfällige Bemerkungen über sich zu hören. Für den Fall, daß Sie als Patient das Gefühl haben, mit Ihnen könnte etwas nicht stimmen, ist Ihr Meßgerät in der Lage, auch nur sehr leise ausgesprochene Wörter zu übertragen, bevor es tatsächlich reagiert und von sich aus Alarm schlägt. Jedenfalls vertrat Lioren die Auffassung, daß das Scremmanspiel mit einem neuen und unerfahrenen Spieler die Patientin wahrscheinlich besser von ihren Sorgen und Nöten ablenke als alles andere, was er in jenem Moment hätte sagen oder tun können, und daß er Morredeth morgen wieder besuchen wolle.«