Diagnostiker bildeten die geistige Elite des Orbit Hospitals. Ein Diagnostiker war eines jener seltenen Wesen, deren Psyche und Verstand als ausreichend stabil erachtet wurden, bis zu zehn Bänder permanent und gleichzeitig im Kopf gespeichert zu haben. Ihren mit Daten vollgestopften Hirnen oblag in erster Linie die Aufgabe, medizinische Grundlagenforschung zu leisten und neue Krankheiten bislang unbekannter Lebensformen zu diagnostizieren und zu behandeln.
Im Hospital gab es das geflügelte Wort – das angeblich vom Chefpsychologen selbst stammte -, daß jeder geistig Zurechnungsfähige, der freiwillig Diagnostiker werden wollte, schon von vornherein verrückt sein mußte.
»Dabei muß man wissen, daß einem mit einem Schulungsband nicht nur die physiologischen Fakten einer Spezies ins Gehirn eingetrichtert werden, sondern auch die Persönlichkeit und das Gedächtnis des Wesens, das dieses Wissen einst besessen hatte«, fuhr Lioren fort. »Praktisch setzen sich Diagnostiker freiwillig einer höchst drastischen Form multipler Schizophrenie aus, und da sich sämtliche Aliens, die in Ihren Hirnen herumgeistern, charakterlich völlig voneinander unterscheiden und häufig nicht einmal dasselbe logische System anwenden… Nun ja, Genies, egal auf welchem Gebiet, sind nur selten leicht umgängliche Wesen. Zwar üben diese Bandurheber auf die Denkprozesse und Körperfunktionen desBandinhabers keine Kontrolle aus, aber ein Diagnostiker, der nicht über eine völlig stabile oder ausgeglichene Persönlichkeit verfügt, kann sich hin und wieder ziemlich lächerlich machen, wenn er das Gegenteil für wahr hält und nicht mehr Herr der eigenen Sinne ist. Wenn man daran gewöhnt ist, auf zwei Füßen zu gehen, der Verstand aber darauf besteht, daß man sechs Beine hat, dann ist das schon schlimm, aber die verschiedenartigen Essensvorlieben und vor allem die Träume, die einem im Schlaf überraschen, wenn der Verstand keine Kontrolle über das Unterbewußtsein hat, sind noch sehr viel schlimmer. Am allerschlimmsten jedoch sind die sexuellen Phantasien fremder Speziesangehöriger… die können einem wirklich arg zu schaffen machen.
Kein Wunder also, daß O'Mara mit einigen Diagnostikern alle Hände voll zu tun hat«, beendete der Padre seine Ausführungen.
Hewlitt überlegte einen Moment, dann sagte er: »Jetzt verstehe ich auch den Grund für die Bemerkung von Pathologin Murchison, daß ihr Mann gleich mehrfach geistesabwesend sei, und auch Priliclas Unsicherheit, die emotionale Ausstrahlung der Virenkreatur entdecken zu können, wenn sein Wirt ein Diagnostiker ist. Dennoch kann ich kaum glauben, daß … «
Er hielt inne, als ein weiterer Diagnostiker watschelnd und quatschend ins Blickfeld rückte. Das Wesen trug einen durchsichtigen Schutzanzug, und das Visier seines Helm war geöffnet. Wie Lioren erklärte, handelte es sich um einen creppelianischen Oktopoden, der einer warmblütigen amphibischen Lebensform angehörte, die sowohl Wasser als auch Luft atmen konnte. Aufgrund seines angegriffenen Hautzustands, der im höheren Alter bei dieser Spezies durchaus üblich war, empfand es dieses Wesen offenbar als angenehmer, Luft zu atmen und seinen Körper in Wasser getaucht zu halten. Hewlitt verstand seinen Namen nicht, denn selbst durch den Translator hindurch hörte sich dieser eher wie ein kurzes Niesen an. Nachdem er sich auch bei diesem Diagnostiker mit Lioren einig darüber war, daß dieses Wesen niemals ein Wirt der Virenkreatur gewesen war, sprach Lioren in den Kommunikator.
»Der letzte ist gerade hineingegangen, Major«, meldete er demChefpsychologen. »Mit Ausnahme von Semlic, der in seinem Umweltprotektor nicht zu sehen war, können wir davon ausgehen, daß alle Diagnostiker sowie Colonel Skempton nicht betroffen sind.«
»In Ordnung, Padre«, antwortete O'Mara knapp. »Dann nehmen Sie beide sofort die Suche wieder auf.«
Offenbar fand in dem Raum eine hitzige Debatte statt, denn sie wurden von einer Vielzahl aufgeregt klingender ET-Stimmen begleitet, als sie sich auf den Weg machten, aber die Geräusche waren zu gedämpft, als daß Hewlitts Translator sie so hätte übersetzen können, daß sie einen Sinn ergeben hätten.
»Als nächstes werden wir der AUGL-Station einen Besuch abstatten«, stellte Lioren klar. »Aber wir sind eben unterbrochen worden, also erzählen Sie mir bitte erst einmal, was genau Sie kaum glauben können.«
»Na ja, ich will Sie nicht kränken, aber ich fürchte, daß Sie schon aufgrund Ihres Berufs dazu neigen, dem Chefpsychologen gegenüber etwas zu freundlich gesinnt zu sein. Mich wird niemand davon überzeugen können, daß er kein mißmutiger, unverschämter und gefühlloser alte Griesgram ist, der allenfalls dann einfühlsam und fürsorglich ist, wenn es um ihn selbst geht. Sobald er den Mund aufmacht, bestärkt er mich nur in meiner Überzeugung.«
Der Padre gab zunächst ein unübersetzbares Geräusch von sich, dann entgegnete er: »Natürlich hat Major O'Mara den einen oder anderen Charakterfehler, und es gibt sogar eine Menge Krankenhausmitarbeiter, die Ihnen sagen werden, daß ihre psychische Stabilität allein darauf zurückzuführen sei, daß sie schlichtweg zuviel Angst vor O'Mara hätten, um durchzudrehen, was natürlich nichts anderes als eine witzig gemeinte Übertreibung ist. Darüber hinaus entspricht es auch in keiner Weise der Wahrheit.«
»Naja, wenn Sie das sagen, Padre«, seufzte Hewlitt.
Während sie weiter den Hauptkorridor entlanggingen, gelang es Hewlitt zum ersten Mal, auch ohne Liorens führender Hand auf der SchulterZusammenstöße mit anderen Wesen zu vermeiden und gleichzeitig eine Unterhaltung zu führen, was ihn ebenso erfreute wie erstaunte.
»Glauben Sie mir, wenn irgendein Wesen, egal welcher Spezies es angehört, dringend psychiatrischer Hilfe bedarf, dann gibt es im ganzen Krankenhaus keine geeignetere Person, und da beziehe ich mich durchaus mit ein, als Major O'Mara, der sie gewährleisten könnte. Der Major übernimmt fast nur die aussichtslos erscheinenden Fälle, also diejenigen, bei denen dauerhafte seelische Erkrankungen zu befürchten sind, die letztendlich dazu führen könnten, daß hochmotivierte und aufopferungsvoll arbeitende Personalangehörige aus dem Dienst entlassen werden müßten. Doch meistens sichert er nicht nur die geistige Gesundheit dieser Mitarbeiter, sondern auch deren beruflichen Werdegang. Diese Akten werden allesamt unter Verschluß gehalten, und weder der Major noch seine Patienten sprechen über die Behandlungsmethode und deren zumeist positiven Folgen… «
Hewlitt wußte zwar nicht warum, aber er war sich ziemlich sicher, daß einer dieser Patienten Lioren gewesen war.
»… O'Mara würde Ihnen übrigens erzählen, daß er sämtliche Klinikmitarbeiter als Patienten betrachtet«, fuhr der Padre fort. »Die meisten von ihnen brauchen nur ein Minimum an Aufmerksamkeit oder überhaupt keine Behandlung, und bei denen kann er sich, wie er sagt, entspannen und sich ganz normal verhalten, nämlich als griesgrämiges und sarkastisch veranlagtes Wesen. Aber wenn er sich besorgt gegenüber einer Person zeigt, so wie er es getan hat, als sich bei Ihnen erste Anzeichen einer psychischen Stressituation einstellten, weil Sie mich als ehemaligen Wirtskörper erkannt hatten, dann kümmert er sich sofort darum. Da Sie sich relativ rasch erholt haben, kehrte O'Mara sofort zu seinem normalen Verhaltensmuster zurück, das er jenen Personen gegenüber an den Tag legt, die er zu den geistig gesunden und seelisch stabilen Patienten zählt.
Anstatt wütend auf ihn zu sein, sollten Sie lieber erleichtert und ihm dankbar sein. Und sicherlich sind Sie auch ein wenig erstaunt … «
Hewlitt lachte. »Vielen Dank auch für diese wirklich erstaunlichenInformationen«, sagte er. »Aber mal im Ernst, ich habe noch eine Frage, und zwar die, die ich Ihnen vorher schon einmal gestellt habe: Was genau verheimlichen Sie mir?«