»Meine vorherige Antwort sollte eigentlich dazu dienen, das Thema zu wechseln, um Ihnen die Gelegenheit zu geben, mal über etwas anderes nachzudenken«, erwiderte Lioren. »Wir kommen übrigens gleich auf die AUGL-Station. Können Sie schwimmen?«
28. Kapitel
In der äußeren Umkleidekabine kontrollierte Lioren die Verschlüsse des Helms und die Luftzufuhr des Schutzanzugs. Bevor er jedoch in die Station schwimmen durfte, wurde diese Prozedur von Oberschwester Hredlichli in dem wassergefüllten Personalraum wiederholt. Allmählich fragte er sich, ob Illensanerinnen so etwas wie ein medizinisches Monopol auf den Oberschwesterposten hatten, denn auf den zwei Stationen, die er bisher kennengelernt hatte, bekleideten jeweils Chloratmerinnen diese Position. Da er von der Schwester durch den Stoff zweier Schutzanzüge getrennt war und immerhin einige Meter Wasser dazwischenlagen, hatte er das Gefühl, daß ihm der typische Chlorgeruch allmählich zu schaffen machte.
»Ich besuche jetzt den Patienten AUGL-Zwei-Dreiunddreißig, das ist die physiologische Klassifikation für diese wasseratmende Spezies. Die AUGLs auf dieser Station sind nach den Nummern ihrer jeweiligen Krankenakte benannt, weil ihre Eigennamen nur den engen Familienangehörigen bekannt sind. Sie sehen ziemlich furchterregend aus, legen ein etwas extrovertiertes Verhalten an den Tag und – es sei denn, man verbietet es ihnen – gehen mit kleineren Wesen etwas verspielt um, verletzen eine andere Kreatur aber niemals absichtlich.«
Als der Padre in Richtung des Stationseingangs schwamm, wirkten die Bewegungen seines sonst so klobig anmutenden Pyramidenkörpers mit den zwölf Gliedmaßen im Wasser geradezu anmutig. »Die meisten Leute empfinden bei der ersten Begegnung mit einem Chalder eine gewisse Beklommenheit, und man wird es Ihnen keineswegs als mangelnde emotionale Stärke ankreiden, wenn Sie sich nicht all zu nahe an diese Wesen herantrauen«, fuhr Lioren fort. »Das hier soll übrigens auch keine Mutprobe oder dergleichen sein. Also nehmen Sie sich Zeit, und unterhalten Sie sich nur dann mit ihnen, wenn Sie das Gefühl haben, innerlich bereit dazu zu sein.«
Hewlitt starrte fast eine Ewigkeit durch die durchsichtige Wand des Personalraums in eine trübe, grüne Unterwasserwelt, in der Unmengenanscheinend zur Dekoration dienende Vegetation trieb, wobei es sich bei den größeren Pflanzen durchaus um die Patienten selbst hätte handeln können. Da sich Hredlichli und eine kelgianische Schwester auf ihre Bildschirme konzentrierten und ihn nicht weiter beachteten, schwamm er ohne weiteres Zögern langsam in die Station hinein.
Den Personalraum hatte er noch keine zehn Meter hinter sich gelassen, da trennte sich vom äußersten Rande des Sichtfelds einer der verschwommenen, dunkelgrünen Schatten aus dem Winkel zwischen Boden und Wand ab und schoß wie ein großer organischer Torpedo auf ihn zu, und je näher dieses undefinierbare Etwas auf ihn zukam, desto mehr nahm es eine grauenerregende, dreidimensionale Gestalt an. Als dieses Ungetüm ruckartig zum Stehen kam, wurde Hewlitt aufgrund der Druckwellen und Turbulenzen, die durch das überstürzte Herannahen und das schnelle Schlagen der Flossen entstanden waren, im Kreis herumgewirbelt.
Plötzlich schwang eine der wuchtigen Flossen nach oben und blieb wie eine weiche Gummimatratze einen Augenblick an seinem Rücken haften, um ihm Halt zu geben. Dann nahm das Wesen etwas Abstand und begann ihn wie ein übergroßer und nicht enden wollender Doughnut zu umkreisen, der vom Kopf bis zum Schwanz mindestens zwanzig Meter lang sein mußte. Er hätte ohne weiteres nach oben oder unten schwimmen können, doch aus irgendeinem Grund waren Arme und Beine und selbst seine Stimme wie gelähmt.
Aus unmittelbarer Nähe sah das Wesen wie ein gewaltiger, gepanzerter Fisch mit einem kräftigen, messerscharfen Schwanz aus, der eine scheinbar planlose Anordnung von kurzen Flossen und einen breiten Ring von Tentakeln besaß, die aus den wenigen sichtbaren Öffnungen seines organischen Panzers hervorragten. Beim Vorwärtsschwimmen lagen die Tentakel flach an den Körperseiten an, aber sie waren so lang, daß sie über die dicke, stumpfe Keilform des Kopfes hinausreichten. Während die Kreatur ihn enger umkreiste, beobachtete sie ihn aus zwei lidlosen Augen, die in Form und Größe umgedrehten Suppenschüsseln ähnelten. Plötzlichteilte sich der Kopf und entblößte einen riesigen, rosafarbenen Rachen, umsäumt von einer Dreierreihe scharfer, weißer Zähne.
»Hallo«, begrüßte ihn der Chalder. »Sind sie etwa die neue Schwesternschülerin? Wir hatten eigentlich eine Kelgianerin erwartet.«
Hewlitt öffnete ebenfalls den Mund, aber es dauerte einen Augenblick, ehe er seine Stimme wiedergefunden hatte. »N-nein«, stammelte er. »Ich bin kein Mediziner, sondern nur ein ehemaliger Patient und besuche die Chalderstation zum ersten Mal.«
»Oh, ich hoffe, daß ich Sie dann durch mein Herannahen nicht allzu sehr erschreckt habe«, entschuldigte sich der Chalder. »Falls doch, tut es mir leid. Sie haben aber auch überhaupt nicht wie ein Besucher reagiert, der das erste Mal hier ist. Ich bin übrigens AUGL-Zwei- Elf. Wenn Sie mir die Aktennummer der Person nennen, die Sie besuchen möchten, bringe ich Sie gerne zu ihr.«
Als Hewlitt sich vorstellen wollte, fiel ihm gerade noch rechtzeitig ein, daß Chalder ihren Namen nicht preisgeben und vermied es deshalb, sich oder sein Gegenüber in ernste Verlegenheit zu bringen. Die Höflichkeit des AUGLs mußte ihn wohl ein wenig übermütig gemacht haben, denn zu seiner eigenen Verwunderung entgegnete er: »Vielen Dank, aber eigentlich möchte ich zu keiner bestimmten Person. Wäre es vielleicht möglich, alle Patienten kurz kennenzulernen?«
Patient Zwei-Elf machte das Maul einige Male auf und zu. Noch während sich Hewlitt fragte, ob der Chalder sein Bitte ablehnen wollte, antwortete dieser: »Das wäre durchaus möglich und in meinen Augen sogar wünschenswert. Dies gilt insbesondere für die drei Patienten, zu denen übrigens auch ich gehöre, deren Entlassung überfällig ist und die sich zusehends langweilen. Es bleibt Ihnen allerdings nicht viel Zeit, denn in knapp einer Stunde wird die Hauptmahlzeit ausgeteilt. Die Nahrung ist selbstverständlich synthetisch, aber höchst beweglich und naturgetreu nachgebildet, und kleine Wesen wie Sie werden aufgefordert, während der Essenszeit die Station zu verlassen, damit sie nicht versehentlich verspeist werden.«»Keine Sorge, ich werde mich bestimmt rechtzeitig zurückziehen«, versicherte ihmHewlitt.
»Das klingt sehr vernünftig«, pflichtete ihm der Chalder bei und hielt kurz inne, bevor er fragte: »Kann es sein, daß ich Sie durch irgendeine unpassende Bemerkung oder Andeutung beleidigt habe?«
Hewlitt musterte erneut den gewaltigen Panzerkörper und die respekteinflößenden Zähne und erwiderte: »Ich bin keineswegs beleidigt.«
»Dann bin ich ja beruhigt«, sagte der AUGL, bevor er näher herankam und direkt an Hewlitt vorbeiglitt, bis nur noch ein riesiges Auge, eine Hälfte der Mundöffnung und eine steif vorstehende Flosse von ihm zu sehen waren. »Terrestrier kann man nicht unbedingt als wassertauglich bezeichnen; sie bewegen sich viel zu langsam und müssen ungeheuer viel Energie dafür aufwenden. Wenn Sie nach der Flosse greifen, die in Ihrer Reichweite ist, und sich an deren Ende mit beiden Händen festhalten, dann können wir zwischen den Patienten umherschwimmen und werden dafür nur einen Bruchteil der Zeit benötigen, die Sie sonst aufwenden müßten.«
Hewlitt zögerte. »Die Flosse sieht… nun ja… ziemlich empfindlich aus. Kann ich Ihnen dabei auch wirklich keinen Schaden zufügen?«