Während sich Hewlitt zwischen den Patienten hindurchbewegte, stellte er den Translator aus, um auf diese Weise den natürlichen Stimmen der SNLUs zu lauschen, und er nahm Klänge wahr, wie er sie noch nie zuvor gehört hatte. So kristallklar und schön waren diese Laute, daß er beinahe das Gefühl hatte, dem akustisch verstärkten Klingeln zusammenprallender Schneeflocken zu lauschen. Auch wenn sich auf dieser Station kein Wirtskörper befand – wobei Hewlitt bezweifelte, daß hier irgend etwas, außer einem SNLU selbst, länger als fünf Minuten überleben könnte -, so wunderte er sich nur um so mehr, wie schwer ihm der Abschied von diesen exotischen Wesen fiel.
Liorens nächster Besuch galt einer melfanischen Schwester namens Lontallet, die gerade dienstfrei hatte. Nachdem Hewlitt ihr vorgestellt worden war und sie von der Verdächtigenliste ehemaliger Viruswirte hatte streichen können, wartete er draußen auf dem Flur, während Lioren die Schwester nach drinnen in deren Unterkunft begleitete.
Das Warten war nicht besonders langweilig, weil eine sich langsam bewegende Patientenkolonne an ihm vorbeizog. Hewlitt zählte dreißig Wesen, die fünf verschiedenen sauerstoffatmenden Spezies angehörten undvon denen einige mit G-Schlitten transportiert wurden. Den hektisch geführten Gesprächen des Begleitpersonals war zu entnehmen, daß es sich offenbar um eine Evakuierungsübung handelte, die ziemlich chaotisch verlief. Als der letzte Pfleger an ihm vorbeigegangen war, kam der Padre wieder nach draußen.
»Ist die Gruppe langsam genug an Ihnen vorbeigezogen, um jeden einzelnen überprüfen zu können?« erkundigte sich Lioren. »Und haben Sie irgendwas bemerkt?«
»Erstens ja und zweitens nein«, antwortete Hewlitt. »Wohin geht's als nächstes?«
»Zur Luftschleuse des Anlegedocks auf Ebene eins. Doch vorher werden wir sämtliche dazwischenliegenden Ebenen und den dazugehörigen Stationen einen kurzen Besuch abstatten und nebenbei alle Passanten auf den Verbindungskorridoren überprüfen«, sagte Lioren. »Auf jeden Fall müssen wir sehr viel schneller arbeiten und dürfen uns nicht so lange mit den Patienten unterhalten. Ein paar Worte wechseln oder ein kurzer Blickkontakt ist alles, was wir uns noch erlauben können. Sind Sie müde?«
»Nein, nur neugierig, aber auch hungrig«, antwortete Hewlitt. »Wir haben schon lange nichts mehr gegessen, und ich…«
»Kurzfristig wird uns der Hunger schon nicht umbringen«, unterbrach ihn der Padre. »Ich habe von Schwester Lontallets Zimmer aus Kontakt mit der Abteilung aufgenommen. O'Mara befindet sich gerade in einer Konferenz, dieses Mal per Kommunikator mit den Kapitänen der wartenden Schiffe, aber er hat eine Nachricht für uns hinterlassen. Demnach hat sich die Situation zwar verschärft, aber dennoch sind die genauen Umstände des technischen Notfalls immer noch nicht publik gemacht worden. Gegenwärtig sind drei verschiedene Evakuierungsübungen in Gang, doch bislang haben noch keine Schiffe an den Anlegeschleusen festgemacht. Die Patienten beklagen sich schon über die Unannehmlichkeiten. Die medizinischen Mitarbeiter ahnen längst, daß etwas im Argen liegt und verlangen nach Antworten auf ihre Fragen, und obwohl ihnen der Krankenhausfriede am Herzen liegt und sie alles fürdessen Aufrechterhaltung tun, bekommen die Patienten doch etwas von ihrer Unruhe mit, und so schaukeln sie sich gegenseitig hoch. In psychologischer Hinsicht befinden wir uns in einer äußerst prekären Situation, und dieser angespannte Zustand ist nicht mehr allzu lange tragbar.«
»Wo liegt denn nun das eigentliche Problem?« wollte Hewlitt wissen. »Sind nicht genügend Schiffe für eine Evakuierung vorhanden? Wenn es sich um ein Geheimnis handelt, behalten Sie es von mir aus für sich, aber das Personal hier weiß sehr wohl mit Notfällen umzugehen, zumindest mit medizinischen. Folglich würden alle sehr viel besser reagieren können, wenn sie in voller Kenntnis der Lage wären, so beängstigend diese auch sein mag.«
Während eines freien Abschnitts auf dem Flur steigerte Lioren die Schrittfrequenz und antwortete: »Genügend Schiffe für die Evakuierung des Orbit Hospitals zusammenzubekommen, sollte nicht das Hauptproblem sein, bedenkt man, wie schnell die Föderation in der Vergangenheit auf solche Katastrophen mit umfangreichen Hilfseinsätzen reagiert hat. Vielleicht kann niemand über das Problem sprechen, weil es selbst niemand versteht oder weil es mehr als lediglich ein Problem gibt.«
»Wollen Sie mich nur noch mehr verwirren, oder soll das eine Art Hinweis sein?« hakte Hewlitt nach.
Lioren ging auf die Frage nicht ein und fuhr fort: »Prilicla hat mir übrigens aus dem Speisesaal keine besonderen Vorkommnisse gemeldet. Keiner der Gäste, deren emotionale Ausstrahlung er prüfen konnte, war oder ist von der Virenkreatur befallen. Aufgrund seines geringen Durchhaltevermögens muß unser kleiner Freund leider erst einmal eine längere Ruhepause einlegen, bevor er die Suche wiederaufnehmen kann. Also sind wir beide zur Zeit die einzigen Wesen, die die Virenkreatur ausfindig machen können, und das, wie O'Mara sagt, unverzüglich. Außerdem sollen wir von nun an unsere Helme verschließen und ausschließlich die Sauerstofftanks benutzen, um beim Wechseln in unterschiedliche Umweltbedingungen keine kostbare Zeit zu verlieren.«»Dadurch sparen wir doch höchstens ein paar Minuten und…«, begann Hewlitt zu protestieren, gab sich aber geschlagen. »Ach, ist mir auch egal…«
Nach seiner Auffassung handelte es sich dabei trotzdem um eine törichte Anweisung, denn mit Ausnahme von zwei Stationen, die sie aufsuchen wollten, gehörten alle anderen zu warmblütigen Sauerstoffatmern, die ähnliche Druck- und Atmosphäreverhältnisse wie sie selbst benötigten. Vielleicht war ja sogar der Chefpsychologe aufgrund dieses ominösen Notfalls nicht mehr ganz Herr seiner Sinne.
Die nächste Station gehörte zu einer der wenigen im Orbit Hospital – die Chalderstation, die sie kurz zuvor besucht hatten, war eine weitere -, auf der nur eine einzige Patientenspezies behandelt wurde. Zum ersten Mal konnte er aus nächster Nähe und erschreckend klar und deutlich eine ganze Station voller illensanischer Körper sehen, die nicht von einer halb durchlässigen, chlorgefüllten Schutzhülle umgeben waren. Es erstaunte ihn nicht, daß keiner dieser Patienten die Virenkreatur beherbergt hatte, weil er sich selbst in seinen kühnsten Phantasien kein Wesen vorstellen konnte, das einen solchen Körper bewohnen wollte, so sehr sich dieses auch nach einem Wirt sehnen mochte.
Eine Station folgte der nächsten und damit einhergehend eine verblüffende Folge von Patienten und Mitarbeitern, von denen die meisten Lebensformen angehörten, die Hewlitt noch nie zuvor gesehen hatte. Zeit für einen großartigen Austausch von Fragen und Antworten war nicht vorhanden. Zwar waren diese Wesen keineswegs auch nur ansatzweise so abstoßend wie die Illensaner, dennoch stellten sie sich nicht als ehemalige Wirtskörper heraus. Die Geschwindigkeit, mit der er und Lioren die Besuche abstatteten, blieb natürlich genausowenig unkommentiert wie der von ihnen ausgehende Chlorgeruch, der noch immer an ihren Schutzanzügen haftete, aber die Gegenwart des Padre gewährleistete, daß sich die Bemerkungen immerhin in einem höflichen Rahmen hielten. Die Überprüfung der Wesen, denen sie in den Verbindungskorridoren begegneten, ergab ebenfalls ausschließlich negative Resultate.»Allmählich frage ich mich, ob wir uns mit unserer Wirtskörperwiedererkennungsfähigkeit nicht ein wenig überschätzen«, äußerte Hewlitt irgendwann erste Zweifel. »Sicherlich haben wir ein nur sehr schwer zu beschreibendes Gefühl füreinander, das man vielleicht am besten als eine Art Verbindung unter Leidensgenossen bezeichnen kann, aber möglicherweise ist diese Fähigkeit nur auf einige wenige beschränkt. Außerdem ist an dieser ganzen Situation sowieso etwas faul. Ich weiß zwar nicht genau, was, aber ich bin mir sicher, daß Sie es wissen und es mir eigentlich sagen könnten.«