Lioren blieb urplötzlich wie angewurzelt stehen, so daß Hewlitt erst einmal einige Schritte zurückkehren mußte. Die Ebenen mit den Patientenunterkünften und medizinischen Versorgungseinrichtungen schienen sie hinter sich gelassen zu haben, weil die Leute, die an ihnen vorbeikamen, die Overalls der Wartungsmannschaften trugen und an den Türen und Nebengängen Symbole angebracht waren, die auf Energieversorgungs- und Wärmeaustauschsysteme hinwiesen. Direkt über dem vor ihnen liegenden Schleusengang war eine Warnung vor radioaktiver Strahlung angebracht, und Hewlitt fragte sich, was sich dahinter verbergen könnte.
»Sind sie müde?« erkundigte sich Lioren.
»Nein«, antwortete Hewlitt. »Wollen Sie wieder mal das Thema wechseln?«
»Wie Sie vielleicht schon mitbekommen haben, bin ich hier am Orbit Hospital früher mal als Arzt ausgebildet worden«, sagte Lioren. »Was ich damit sagen will, ist, daß ich die terrestrische Physiologie gut genug kenne, um zu wissen, daß Sie irgendwann an die Grenzen Ihrer körperlichen Belastbarkeit geraten. Mittlerweile müßten sie sowohl sehr müde als auch extrem hungrig sein. Bei meinem nächsten und letzten Patientenbesuch handelt es sich übrigens um einen Angehörigen der Klassifikation VTXM. Das ist ein sogenannter Strahlenverwerter, der schon aus diesem Grund als Wirtskörper nicht in Frage kommt. Dieser Patient ist ebenfalls ein hoffnungsloser Fall. Ich habe ihn vor einiger Zeit zum ersten Mal besucht,und er hat mich darum gebeten, bis zu seinem Ende immer mal wieder nach ihm zu sehen. Sie könnten diese Gelegenheit dazu nutzen, etwas zu essen oder ein wenig zu schlafen.«
»Ich bin aber nicht müde«, wehrte sich Hewlitt. »Haben Sie vergessen, daß wir dank der Virenkreatur mit einer optimalen Gesundheit ausgestattet sind? Zu dieser Hinterlassenschaft gehört vermutlich auch, daß wir zu einem Höchstmaß an körperlicher Leistung befähigt sind und längst nicht so schnell erschöpft sind wie andere. Bedenkt man das enorme Ausmaß an körperlichen Aktivitäten, die wir in den letzten Stunden geleistet haben, dann gehe ich wahrscheinlich recht in der Annahme, daß Sie sich ebenfalls weniger müde fühlen, als es normalerweise der Fall sein müßte, stimmt's?«
»Ich streite mich nicht gerne mit Ihnen«, antwortete der Padre. »Vor allem dann nicht, wenn Sie, wie in diesem Fall, recht haben. Zur Zeit gehen mir allerdings sehr viel wichtigere Dinge durch den Kopf. Dennoch stimme ich Ihnen gern zu, daß wir längst nicht so müde sind, wie wir's sein müßten.«
Es war klar, daß Lioren verärgert über ihn war, wahrscheinlich aus verständlichen religiösen Gründen, zumal der Padre kurz vor einem wichtigen Krankenbesuch stand.
»Ich scheine mich mein ganzes Leben lang gestritten zu haben«, setzte Hewlitt zu einer Entschuldigung an. »Meistens mit Ärzten, die fest davon überzeugt waren, daß sie im Recht waren und ich mich irrte. Tut mir leid, aber Streiten ist für mich zu einer schlechten Angewohnheit geworden, die ich ablegen sollte. Falls Sie aufgrund persönlicher oder religiöser Gründe lieber auf meine Gesellschaft bei diesem Besuch verzichten wollen, dann sagen Sie das einfach. Da wir aber bislang alle in Frage kommenden Kontaktpersonen unserer Virenkreatur gemeinsam überprüft haben, sollten wir vielleicht im Interesse der Verläßlichkeit unsere Arbeit auch gemeinsam beenden, selbst auf die Gefahr hin, damit nur unsere Zeit zu verschwenden.«
Als ihm der Padre wieder einmal eine Antwort schuldig blieb, fuhr Hewlitt lächelnd fort: »Wenn Sie diese telfischen Strahlenverwerterebenfalls nicht als geeignete Wirtskörper ansehen, wie ist es dann um die bei extrem niedrigen Temperaturen lebenden SNLUs bestellt? Könnte eine Virenkreatur bei Temperaturen nahe vor dem absoluten Nullpunkt leben? Und wenn es sich um einen intelligenten Virus handelt, warum sollte er das wollen?«
Lioren schien an Hewlitts Äußerung nichts Komisches zu finden und erwiderte: »Über die Beweggründe der Virenkreatur weiß ich einfach zu wenig, um über deren Verhaltensweisen irgendwelche Vermutungen anzustellen. Und wenn Sie an die Naturkunde Ihres Heimatplaneten denken, dann finden Sie viele Beispiele dafür, daß einfache Lebensformen sogar über einen Zeitraum mehrerer Millionen Jahre unter den Polareisschichten überlebt haben.«
»Und erinnern Sie sich noch daran, wie ich O'Mara gesagt habe, daß unsere Virenkreatur die Auswirkungen einer Atomexplosion überstanden hat und es dieses Ereignis über zwanzig Jahre offenbar ohne Folgen überleben konnte, bevor es mich infiziert hat?«
Sie mußten rasch zwei orligianischen Monitorkorpsoffizieren ausweichen, die ihre Ausrüstungsschlitten anscheinend mit Rennfahrzeugen verwechselten, und nach diesem kurzen Zwischenfall vergingen erst einmal einige Minuten, ehe sich Lioren zu Hewlitts letzter Frage äußern wollte.
»Ich kann mich nicht daran erinnern, weil ich diesen Teil des Gesprächs in O'Maras Büro noch nicht mitgehört habe. Also ist diese Information neu für mich. Dennoch gibt es einen gewaltigen Unterschied, ob man den Ausläufern radioaktiver Strahlung kurzfristig ausgesetzt ist, wie es bei der Virenkreatur der Fall gewesen war, oder ein Leben lang extrem harter Strahlung wie bei den Telfis. Jetzt streiten Sie sich zwar schon wieder mit mir, aber auch dieses Mal könnten Sie durchaus recht haben. Also gut, dann begleiten Sie mich auf die Telfi-Station.«
»Vielen Dank. Sobald ich den Patienten gesehen habe, lasse ich Sie beide allein, damit Sie sich mit ihm privat unterhalten können.«
»Das wird nicht nötig sein, da der Patient bald sterben wird. Außer dem Umstand, daß er sich dieser unumstößlichen Tatsache voll und ganz bewußtist, hat er nicht gesagt, daß ihm irgend etwas auf der Seele liegt. Wie nicht anders zu erwarten, basieren alle telfischen Religionen auf verschiedenen Formen der Sonnenverehrung. Allerdings hat er mir nicht verraten, ob er ein Anhänger einer dieser Glaubensrichtungen ist. Alles, was er zu diesem Zeitpunkt braucht oder sich wünscht, ist der Kontakt mit anderen intelligenten Wesen, die ihm zuhören oder mit ihm reden, bis er nicht mehr in der Lage ist, seine Gedanken in Worte zu fassen. Wir können ihn lediglich auf seinem Leidensweg ein Stück begleiten und ihm zuhören, in der Hoffnung, daß wir ihm damit etwas Gutes tun und Trost spenden.«
Lioren bog plötzlich in einen Seitengang ein, so daß Hewlitt sich beeilen mußte, um ihn einzuholen. »Würde sich der Patient nicht besser fühlen, wenn in einer solch wichtigen Zeit einer seiner Freunde oder Verwandten bei ihm wäre?« keuchte er außer Atem.
»Offensichtlich wissen Sie nicht viel über die Telfis nicht wahr?«
»Zumindest nur wenig«, räumte Hewlitt ein, wobei ihm die Anspielung auf seine Unkenntnis die Schamröte ins Gesicht trieb. »Da ich nie gedacht hätte, jemals einem persönlich zu begegnen, gab es auch keinen Grund für mich, mehr über sie in Erfahrung zu bringen. Ich weiß nur, daß sie aufgrund ihrer Radioaktivität äußerst gefährlich und keine … na ja, keine sehr zugänglichen Wesen sind.«
»Ihre Umwelt ist uns feindlich gesinnt, nicht aber die Wesen selbst«, hielt ihm Lioren entgegen. »Übrigens lernen nur sehr wenige Bürger der Föderation Telfis persönlich kennen, deshalb ist Ihre Wissenslücke auch kein Grund, sich zu schämen. Bevor wir diesen Patienten gleich besuchen, sollten Sie etwas mehr über die Lebensgewohnheiten der Telfis erfahren und, was in diesem Fall noch wichtiger ist, über deren Sterbebräuche. Können Sie eigentlich Wissen aufnehmen, während Sie Ihre unteren Gliedmaßen etwas schneller bewegen?«