Hewlitt schluckte schwer und versuchte, mit fester Stimme zu reden, als er sagte: »Wenn wir tatsächlich Virenembryos in uns tragen, müßte Prilicla sie dann nicht wahrnehmen können?«
»Ja, vorausgesetzt, daß sie sich in einem Entwicklungsstadium befinden, wo sie sich ihrer eigenen Existenz bereits bewußt sind.«
Noch bevor Hewlitt etwas entgegnen konnte, fuhr Lioren fort: »Weder Patient Cherxic noch irgendein anderer Telfi würde in solch einer tragischenZeit daran denken, um die Anwesenheit eines Familienangehörigen oder Freundes zu bitten. Bei vollem Bewußtsein langsam sterben zu müssen ist für jede Lebensform eine schreckliche Erfahrung, und da die Telfis ihre telepathischen Fähigkeiten bis zum Ende bewahren, möchten sie diese nicht mit ihren Artgenossen teilen. Selbst bei nachlassendem Bewußtsein spürt ein Telfi heftige Schmerzen, begleitet von Angst, die nicht gebändigt oder verheimlicht werden kann, weil ein Telepath außerstande ist, seine Gefühle zu verheimlichen. Für ein Wesen, das von Geburt an daran gewöhnt ist, in engem körperlichen und geistigen Kontakt mit seinen Mitwesen zu stehen, bedeutet dieser Zustand eine unbekannte und schreckliche Isolation; eine Einsamkeit, die dermaßen groß ist, daß Nichttelepathen sich das kaum vorstellen können. Folglich sind nur Nichttelepathen wie wir in der Lage, einem sterbenden Telfi Trost zu spenden. Dies erreichen wir am besten dadurch, indem wir uns mit ihm per Translator unterhalten, seinen letzten Gedanken zuhören und ihm ermöglichen, die körperliche Nähe eines anderen empfindungsfähigen Wesens noch einmal zu spüren, denn er weiß, daß wir Mitgefühl haben, seinen Schmerz aber nicht spüren können.«
Hewlitt schämte sich ein wenig dafür, daß seine egoistische Angst größer gewesen war als sein Mitleid für dieses Wesen, dem er gleich begegnen würde. »Wie sehen Telfis eigentlich aus? Und als Sie eben von körperlicher Nähe gesprochen haben, was genau haben Sie damit gemeint?«
»Wir werden jetzt bis zur Schleusenkammer gehen, die zum Telfi-Schiff führt«, sagte Lioren, ohne Hewlitts Frage zu beantworten. »Folgen Sie mir. Sie brauchen keine Angst zu haben, denn wo wir hingehen, ist die Strahlenemission ungefährlich.«
Die Luftschleuse klappte auf und enthüllte einen Bordtunnel, dessen Ende wie eine viereckige Sonne glühte. In der Zeit, in der sie ihn durchquert hatten, hatten sich Hewlitts Augen an das grelle Licht gewöhnt, aber trotz seiner Sichtblende mußte er die Augen zusammenkneifen, um die Einzelheiten erkennen zu können. Die Geräte, die aus den Wänden und der Decke hervorragten, nahm er nur verschwommen wahr – und das sowohl in optischer als auch in geistiger Hinsicht -, doch in der Mitte derSchleusenkammer war ein G-Schlitten festgebunden, auf dem zwei lange, offene Metallkästen standen. Hewlitt folgte dem Padre und blieb mit ihm neben den beiden Kästen stehen. Ihm fiel dabei auf, daß Särge offenbar auf allen Welten gleich aussahen, wenngleich die Tatsache, daß diese Wesen anscheinend in ihre letzte Ruhestätte gelegt worden waren, bevor sie klinisch tot waren, nach seinem Dafürhalten von einem gewissen Mangel an Sensibilität zeugte.
»Diese beiden sind klinisch tot«, korrigierte ihn Lioren mit leiser, mißbilligender Stimme, die Hewlitt deutlich werden ließ, daß er zuvor laut nachgedacht haben mußte. »Sie sind beide innerhalb weniger Minuten nach meinem ersten Besuch gestorben. Man hat sie hier in der Schleusenkammer in der Nähe des Bordtunnels gelassen, damit die physische Anwesenheit ihrer Körper dem noch lebenden Teilwesen ihrer ehemaligen Gesamtgestalt keinen Kummer bereitet. Außerdem ist es so für die Pathologie bequemer, die Leichen abzutransportieren. Da die Telfis ihre Toten lediglich in der Erinnerung ehren, sind die Leichen dem Krankenhaus für Forschungszwecke zur Verfügung gestellt worden, allerdings unter der Voraussetzung, daß die sterblichen Überreste auf die Oberfläche irgendeiner Sonne befördert werden. Bei den raumreisenden Gestaltwesen der Telfis hat sich dieser einheimische Brauch so eingebürgert. Entschuldigen Sie mich bitte kurz, denn ich muß mich erkundigen, ob es überhaupt noch möglich ist, Cherxic zu besuchen. Vielleicht ist er bereits gestorben… Ach, und bitte denken Sie daran, daß der Tod während einer Unterhaltung mit einem Telfi nie angesprochen werden darf.«
»In Ordnung, und trotzdem habe ich noch eine Frage: Eben haben Sie gesagt, daß die körperliche Nähe zu…«
»Padre Lioren und Patient Hewlitt, ein DBDG-Terrestrier, möchten mit dem verletzten Teilwesen Cherxic Kontakt aufnehmen«, sagte Lioren in den Kommunikator. »Wäre das wohl möglich?«
In Hewlitts Hörmuschel knisterte so etwas wie eine lang anhaltende statische Entladung, die der Translator folgendermaßen übersetzte: »Sowohl Sie Lioren, als auch der Fremde namens Hewlitt sindwillkommen. Ein kurzer Besuch ist möglich. Bitte warten Sie.«
Der Padre trat näher an Hewlitt heran und betrachtete mit ihm gemeinsam einen der toten Telfis. Als Lioren sprach, war seine Stimme von tiefem Bedauern durchdrungen. »Der Telfi leidet schon sehr lange unter seiner Einsamkeit, doch können wir beide wenigstens etwas dazu beitragen, ihm sein Los zu erleichtern.«
Nach dem, was ihm alles über diese exotische strahlenverspeisende Spezies zu Ohren gekommen war, hätte Hewlitt niemals damit gerechnet, daß diese Wesen so gewöhnlich aussehen würden.
Mit Ausnahme eines zusätzlichen Paars Vorderglieder, die aus dem Halsansatz wuchsen, ähnelten die Telfis großen terrestrischen Eidechsen, die vom knolligen Kopf bis zum spärlichen Schwanz knapp anderthalb Meter lang waren. Die Leichname lagen auf dem Bauch, so daß die beiden kleinen lidlosen Augen und der geschlossene Mund die einzigen sichtbaren Gesichtsmerkmale waren. Die vier kurzen Gehgliedmaßen lagen flach am Körper an, während die beiden längeren Greiforgane über Kreuz nach vorn ausgestreckt waren, damit das Kinn auf dem Kreuzungspunkt ruhen konnte. Die blaßgraue Haut war überall gesprenkelt und geädert, wodurch sie Statuen aus unpoliertem Marmor glichen.
Obwohl Hewlitt sich daran erinnerte, daß man die Toten ruhen lassen und nichts Nachteiliges über sie sagen sollte, platzte es automatisch aus ihm heraus: »Die Hautfarbe sieht ja furchtb… ahm… wirklich sehr interessant aus. Man könnte fast sagen schön, wenn man farbenblind wäre.«
»Sie dürfen das Cherxic gegenüber niemals erwähnen, wenn Sie ihm begegnen«, ermahnte ihn der Padre in scharfem Ton. »Für einen Telfi ist blasse Haut nämlich weder interessant noch schön, sondern nur ein Symptom für fortgeschrittenen Strahlenhunger und den lebensbedrohlichen Ausfall des Absorptionsmechanismus. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann können Sie die Leichen ruhig anfassen. Legen Sie Ihre flache Hand irgendwo auf die Körperoberfläche.«
Nachdem sich Hewlitt mit seiner Bemerkung über die vermeintlich schöne Haut der Leichen etwas weit aus dem Fenster gelehnt hatte, fühlteer sich nun dem Padre gegenüber verpflichtet, einen der toten Telfis zu berühren. »Der fühlt sich ja ganz warm an«, staunte er.
»Da er keine Energie mehr absorbiert, hat sein Körper die Raumtemperatur angenommen«, erklärte der Padre. »Für Cherxic ist es nachher übrigens am angenehmsten, wenn man seinen Kopf sanft und langsam streichelt. Körperlicher und verbaler Kontakt ist zwar nur ein dürftiger Ersatz für die Gestalttelepathie, aber beides scheint dem Patienten Trost zu spenden.«
Hewlitt hörte auf, die blasse Eidechsenhaut zu streicheln, und ließ seine Hand darauf ruhen. »Moment mal! Ich habe Ihnen schon vorher diese Frage zu stellen versucht: Wollen Sie mir damit allen Ernstes sagen, daß Sie auch Cherxic mit der bloßen Hand berührt haben, genauso wie Sie Morredeths Fell angefaßt haben?«