»Ja, aber ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe. Als ich runterfiel, ging die Sonne gerade unter. Sie haben mich aufgeweckt.«
»Bewußtlos für vier, vielleicht fünf Stunden«, murmelte der Mann mit besorgter Stimme. »Wenn ich dir jetzt beim Hinsetzen helfe, sag mir, ob irgend etwas weh tut, in Ordnung? Ich möchte deinen Kopf scannen.«
Dieses Mal bewegte der Monitoroffizier den Scanner sehr langsam über das ganz Gesicht, an den Schläfen entlang bis zum Hinterkopf und über den Nacken. Dann packte er das Gerät wieder in den Beutel und stand auf. Bevor Hewlitt noch etwas sagen konnte, waren bereits seine Eltern eingetroffen. Seine Mutter kniete neben ihm nieder und nahm ihn so fest in beide Arme, daß er kaum noch Luft bekam, und sie schluchzte vor Erleichterung, während sein Vater dem Mann mit der Uniform Fragen stellte.
»Der junge Mann hat sehr viel Glück gehabt«, hörte Hewlitt den Monitorarzt leise antworten. »Wie Sie sehen können, ist seine Kleidung zwar völlig zerfetzt, wahrscheinlich vom Spielen inmitten des Kriegsschrotts und von der langen Strecke, die er hier in die Schlucht hinuntergerutscht ist, aber ansonsten hat er keinen Kratzer abbekommen. Er hat mir erzählt, daß er etwas Obst von dem Pessinithbaum dort oben gegessen und davonMagenkrämpfe bekommen habe. Dann sei er vom Baum runtergefallen und seit Sonnenuntergang bewußtlos gewesen. Nun, es ist zwar nicht meine Art, mich mit einem Kind zu streiten, das übermäßig viel Phantasie besitzt, aber die Tatsachen stellen sich wohl doch anders dar. Die Magenverstimmung ist verschwunden, und ein Sturz aus der Baumkrone hätte Schnittwunden, Prellungen, Brüche und eine Gehirnerschütterung zur Folge haben müssen, aber seine Haut ist nicht einmal abgeschürft. Eine vier- bis fünfstündige Bewußtlosigkeit müßte irgendwelche traumatischen Folgen haben, die ich aber nicht feststellen konnte.
Vom Zustand der Kleidung her«, fuhr der Monitor fort, »würde ich sagen, daß er zwischen den Wracks so lange gespielt hat, bis er völlig übermüdet war und einfach eingeschlafen ist, als er hier hinunterklettern wollte. Durch die Magenschmerzen und den angeblichen Sturz möchte er wahrscheinlich nur an ihr Mitleid appellieren, um so vom elterlichen Zorn abzulenken.«
Seine Mutter hörte auf zu weinen und fragte Hewlitt, ob ihm wirklich nichts fehle, dennoch hörte er dazwischen seinen Vater sagen, daß sie viel zu froh seien, ihn heil und gesund wiedergefunden zu haben, als daß sie ihm Vorwürfe machen könnten.
»Manchmal machen sich Kinder nun mal selbständig und verirren sich dabei, doch häufig endet solch ein Abenteuer nicht so glücklich«, meinte der Monitor. »Wir werden Ihren Sohn lieber mit unserem G-Schlitten nach Hause transportieren, weil er noch immer etwas übermüdet sein könnte. Ich werde morgen bei Ihnen vorbeischauen und ihn noch einmal untersuchen, obwohl das eigentlich nicht notwendig ist, denn Ihr Kind ist in guter Verfassung. Sie haben einen sehr gesunden Jungen, und es fehlt ihm absolut nichts …«
Das warme Gefühl durch die Umarmung seiner Mutter, der Anblick der lichtdurchfluteten Schlucht und der enorm gesprächige Monitorarzt verschwanden und wurden durch die vertraute Umgebung von Station sieben und einen anderen Monitoroffizier ersetzt, der ihn schweigend anschaute.
8. Kapitel
»Also hielt mich der Monitorarzt für einen Lügner«, fuhr Hewlitt fort, wobei er versuchte, seinen Zorn zu verbergen. »Selbst meine Eltern haben mir damals nicht geglaubt, obwohl ich mehrere Male versucht hatte, ihnen alles so zu erzählen, wie es sich wirklich abgespielt hatte … und Sie glauben mir ebensowenig.«
Braithwaite sah ihn einen Augenblick lang schweigend an und sagte dann: »So, wie Sie es mir eben gerade erzählt haben, kann ich auch verstehen, warum Ihnen niemand geglaubt hat. Der Monitoroffizier hatte sowohl in medizinischer als auch in anatomischer Hinsicht einleuchtende Gründe, um Sie für einen Lügner zu halten, und da die meisten Leute Ärzten vertrauen, haben auch Ihre Eltern eher ihm geglaubt als ihrem phantasievollen vierjährigen Sohn. Ich weiß nicht, wem oder was ich glauben soll, weil ich nicht dabeigewesen bin. Wahrheit kann auch eine sehr subjektive Angelegenheit sein. Ich gehe davon aus, daß Sie glauben, Sie würden die Wahrheit sagen, das ist aber nicht dasselbe, als wenn ich denken würde, daß Sie ein Lügner sind.«
»Sie bringen mich ganz schön durcheinander«, meinte Hewlitt. »Halten Sie mich etwa für einen Lügner und wollen es mir aber nicht direkt ins Gesicht sagen?«
Braithwaite ging auf die letzte Frage Hewlitts nicht ein und erkundigte sich seinerseits: »Haben Sie den anderen Ärzten auch von dem Unfall in der Schlucht erzählt?«
»Ja«, antwortete Hewlitt. »Allerdings habe ich ziemlich schnell damit aufgehört, es ihnen zu erzählen, denn keiner von denen war daran interessiert, sich mein Abenteuer anzuhören. Genauso wie Sie haben nämlich auch die Psychologen geglaubt, daß alles nur meiner Phantasie entsprungen sei.«
»Ich nehme an, daß Sie auch von allen gefragt wurden, ob Sie eine Abneigung gegen Ihre Eltern hegen oder nicht, und wenn ja, wie groß dieseAbneigung ist, richtig?« hakte Braithwaite lächelnd nach. »Sie müssen schon entschuldigen, aber diese Frage muß ich Ihnen einfach stellen.«
»Tja, das vermuten Sie ganz richtig, und glauben Sie mir, Sie vergeuden nur Ihre Zeit damit«, seufzte Hewlitt. »Natürlich gab es Augenblicke, wo ich meine Eltern nicht ausstehen konnte. Wenn sie zum Beispiel nicht das taten oder mir nicht das gaben, was ich wollte, oder wenn sie zu beschäftigt waren, um mit mir zu spielen, und ich statt dessen Schularbeiten machen mußte. So etwas passierte aber nicht sehr häufig und auch nur dann, wenn etwas Wichtiges anstand und beide zu beschäftigt waren. Meine Eltern gehörten dem Kulturkontaktamt an und waren beide beim Monitorkorps, aber sie trugen die Uniformen nur selten, da sie meistens von zu Hause aus arbeiteten. Trotzdem bin ich nie vernachlässigt worden. Meine Mutter war sehr nett, und ich konnte sie leicht herumkriegen, wenn ich etwas von ihr wollte. Mein Vater ließ sich nicht so einfach täuschen, aber dafür hatte ich mit ihm mehr Spaß. Normalerweise war immer wenigstens einer der beiden zu Hause, und wenn ich erst einmal die Hausaufgaben erledigt hatte, haben sie sich sehr viel Zeit für mich genommen, obwohl ich gar nicht genug davon kriegen konnte. Vielleicht lag es ja daran, daß ich irgendwie spürte, sie frühzeitig zu verlieren, und daß uns nicht mehr viel Zeit miteinander verbleiben würde. Ich habe sie wirklich sehr vermißt, und ich tue es immer noch.«
Hewlitt schüttelte den Kopf und versuchte auf diese Weise vergeblich, die Erinnerungen loszuwerden. »Ihre Kollegen kamen jedenfalls stets zu der Auffassung, ich hätte mich wie ein ganz normaler Vierjähriger verhalten: etwas egoistisch und nicht ganz aufrichtig eben.«
Braithwaite nickte verständig. »Dieses psychische Trauma, Mutter und Vater im Alter von vier Jahren verloren zu haben, kann dauerhaft seelische Störungen verursachen. Ihre Eltern sind doch bei einem Flugzeugunglück umgekommen, das Sie als einziger überlebt haben. Wie genau können Sie sich an den Unglücksfall erinnern? Was haben Sie damals empfunden, und wie sind Ihre Gefühle heute?«
»Ich kann mich an alles erinnern«, antwortete Hewlitt, wenngleich er sichwünschte, der Arzt würde endlich zu einem anderen, weniger schmerzhaften Thema übergehen. »Damals wußte ich noch nicht, was genau geschehen war. Später habe ich jedoch herausgefunden, daß wir uns auf dem Weg zu einer Konferenz befanden, die in einer Stadt auf der anderen Seite des Planeten stattfinden sollte. Als wir über ein Waldgebiet flogen, trat bei der Maschine eine verheerende Funktionsstörung auf. Wir befanden uns in eintausendfünfhundert Metern Höhe, benutzten also den Luftkorridor für kleinere Flugzeuge, und bevor wir gegen die Bäume krachten, müssen noch einige Minuten vergangen sein. Meine Mutter kletterte auf die Rücksitze, wo ich festgeschnallt war, und umklammerte mich schützend, während mein Vater versuchte, wieder die Kontrolle über das Flugzeug zu erlangen. Wir schlugen heftig auf. Durch den Boden und durch eine Seite des Rumpfs preßten sich dicke Äste hindurch. Ich fiel bei dem Aufprall in Ohnmacht. Als man uns am nächsten Tag fand, waren meine Eltern tot – und ich…? Nun, ich bin vollkommen unverletzt geblieben.«