»Der Zustand tritt ohne ersichtliche Ursache und, ohne Vorwarnung in Abständen auf«, fuhr Hewlitt deshalb fort. »Aber das müßten Sie ja auch aus meiner Krankenakte wissen. Was geht eigentlich sonst noch daraus hervor?«»In der Akte wird des weiteren die Möglichkeit in Betracht gezogen, daß Sie selbst die Hauptursache sind«, antwortete die Kelgianerin geflissentlich, »und daß der Krankheitszustand durch eine heftige hysterische Reaktion hervorgerufen wird, deren Auslöser wiederum eine tiefsitzende Psychose ist, die sich auch auf physischer Ebene äußern kann. Um diese Theorie nachzuweisen oder auch zu widerlegen, wurde eine genaue psychologische Untersuchung angeordnet. Und jetzt drehen Sie sich auf die linke Seite.«
Hewlitt blickte sofort zu Braithwaite hinüber, der schmunzelnd an die Decke sah, und sagte dann: »Bislang gibt es keinen einzigen Beweis einer existierenden Psychose, sei sie nun tiefverwurzelt oder sonst was, und zwar deshalb, weil es einfach keine zu finden gibt. Hätte es in meiner Kindheit ein Erlebnis oder gar ein Verbrechen gegeben, das seither in meinem Unterbewußtsein vergraben liegt und so gräßlich und schmerzlich gewesen ist, daß ich mich gezwungen sah, es zu vergessen, dann hätte ich bestimmt Erinnerungslücken oder würde ständig von Alpträumen geplagt. Auf alle Fälle müßte es unter diesen Umständen irgendwelche anderen Symptome als den plötzlichen Eintritt eines Herzstillstands geben, oder was meinen Sie?«
Das Fell der Kelgianerin bewegte sich von der Nase bis zu dem Körperabschnitt, der von der Bettkante verdeckt wurde, in schnellen unregelmäßigen Wellen, als sie antwortete: »Ich bin zwar keine Psychologin für Terrestrier und noch nicht einmal für Kelgianer, dennoch stimme ich mit Ihnen nicht überein. Es ist allgemein anerkannt, daß verdrängte Erlebnisse starke Auswirkungen auf den allgemeinen Gesundheitszustand eines Wesens haben, und je höher der Verdrängungsgrad ist, desto schwerer ist es, diese Probleme zu entdecken. Es verbirgt sich etwas in Ihrem Unterbewußtsein, das nicht zum Vorschein kommen will. Falls dieses verdrängte Erlebnis solch eine Bedrohung für Sie bedeutet, daß es einen Herzstillstand oder andere Symptome verursachen kann, wie sie ja bereits in der Vergangenheit während ähnlicher Anlässe aufgetaucht sind, dann muß das Problem sehr sorgfältig lokalisiert, identifiziert und aufgedeckt werden, damit Sie diesen Prozeß unversehrt überstehen.«Diesmal blickte die Kelgianerin zu Braithwaite hinüber, der zustimmend nickte. Also glaubten wieder einmal alle, daß sich bei ihm alles nur im Kopf abspielte. Hewlitt versuchte, seine aufsteigende Wut zu unterdrücken, was aber eigentlich unnötig war, wenn man sich mit einer Kelgianerin unterhielt, und sagte: »Und wie sollte man dieses verdrängte Problem Ihres Erachtens nach am besten aufdecken und identifizieren?«
Einen Moment lang herrschte Stille, die Medalont schließlich mit dem Einwurf durchbrach: »Der Patient scheint jetzt seine Ärztin prüfen zu wollen. Obwohl ich zugeben muß, daß mich die Antwort auch interessiert.«
Das Fell der Kelgianerin richtete sich stachelig auf und legte sich wieder, bevor sie antwortete: »Bisher ist Chefarzt Medalont außerstande gewesen, eine medizinische Ursache für Ihren Zustand festzustellen, Patient Hewlitt. Andererseits hat Lieutenant Braithwaite auch keine Anzeichen für eine schwere psychische Störung entdecken können. Wenn es aber etwas gibt, dann müssen Sie etwas merken, Sie müssen fühlen, daß etwas mit Ihnen nicht stimmt, wie schwach diese Empfindung auch immer sein mag. Deshalb schlage ich vor, daß eine noch genauere Untersuchung Ihres Gefühlsleben vorgenommen werden sollte, und zwar eine gründlichere als die mündliche Befragung seitens des Lieutenants.
Konkret denke ich dabei an eine Untersuchung, die von einem cinrusskischen Empathen wie Doktor Prilicla durchgeführt werden sollte«, beendete die Kelgianerin ihre Ausführungen. »Er wäre vielleicht in der Lage, Empfindungen wahrzunehmen, die, obwohl sie Ihnen selbst gar nicht bewußt sind, wahrscheinlich die Ursache für Ihre Krankheit sein könnten.«
»Aber normalerweise geht es mir doch gut! Und wäre ich nicht der erste, der wüßte, wenn es nicht so wäre?« protestierte Hewlitt. »Unabhängig davon habe ich seit meinem Aufenthalt im Orbit Hospital zwar einige ziemlich schauerlich aussehende Aliens kennengelernt, jedoch kann ich mich nicht daran erinnern, daß einer davon ein Cinrussker gewesen ist.«
»Wenn Sie Prilicla gesehen hätten, dann würden Sie sich bestimmt an ihn erinnern«, versicherte ihm die Kelgianerin.Bevor er antworten konnte, klickte Medalont mit einer Zange, um für Ruhe zu sorgen, und sagte: »Vor allem sollten Sie bedenken, daß Cinrussker keine Telepathen, sondern Empathen sind, die zwar selbst die unterschwelligsten Gefühle wahrnehmen und auseinanderhalten können, aber nicht deren Ursachen erkennen. Patient Hewlitts emotionale Ausstrahlung durch einen Empathen prüfen zu lassen, ist ein guter Vorschlag, so gut, daß er bereits von der psychologischen Abteilung und mir gemacht wurde. Bedauerlicherweise kann er noch nicht umgesetzt werden, da Chefarzt Prilicla erst in zwei Wochen von Wemar zurückkehren wird. Inzwischen hat sich Patient Hewlitt freundlicherweise bereit erklärt, Sie bei Ihrer Ausbildung zu unterstützen, indem er sich einer Art Multispezies-Untersuchung unterzieht, die jeder von Ihnen der Reihe nach durchführen wird. So, Sie alle müssen heute noch Vorlesungen besuchen, und Ihre Zeit hier ist begrenzt. Lassen Sie uns also fortfahren.«
Einige der Untersuchungen verliefen nicht ganz so sanft wie andere, jedoch war keine so unangenehm, als daß Hewlitt es für nötig gehalten hätte, sich zu beschweren. Darüber hinaus gab er sich alle Mühe, die Fragen zu beantworten, anstatt zu versuchen, selbst welche zu stellen.
Schließlich war alles vorbei. Medalont und die Auszubildenden bedankten sich bei ihm einer nach dem anderen, bevor sie sich entfernten und ihn mit Braithwaite allein zurückließen.
»Na, das haben Sie ja wirklich prima durchgestanden, Patient Hewlitt«, lobte ihn der Lieutenant. »Ich bin tief beeindruckt.«
»Ja ja, ist ja gut«, murmelte Hewlitt etwas verlegen. »Und was ist nun mit Ihrem ach so speziellen und angeblich so unangenehmen Stress-Test, bei dem Sie es unter keinen Umständen zulassen wollten, daß er außer Kontrolle gerät? Werde ich den genauso gut überstehen?«
Braithwaite lachte. »Den haben Sie doch gerade überstanden.«
»Ich verstehe.« Hewlitt schnaufte abfällig. »Sie wollten sehen, welche Auswirkungen ein solcher Massenangriff von Aliens auf meine nicht existierende Psychose haben würde, stimmt's? Nun, ich fühle mich in derenGesellschaft immer noch nicht besonders wohl, scheine aber aus irgendeinem Grund neugieriger geworden zu sein. Ich meine damit, daß ich jetzt aufrichtige Neugierde anstatt Angst empfinde. Können Sie mir verraten, warum das so ist?«
»Neugierde ist immer gut«, meinte der Psychologe, und ohne die Frage zu beantworten, fuhr er fort: »Sie haben noch ein weiteres Problem. Die Zeit, die ein Arzt am Orbit Hospital jedem einzelnen Patienten widmen kann, ist sehr knapp bemessen, besonders bei nicht so; dringenden Fällen wie dem Ihren. Haben Sie eine Idee, wie Sie sich in den nächsten Wochen beschäftigen können?«
»Wollen Sie mir damit sagen, daß mit mir nichts unternommen wird, bis dieses cinrusskische Wesen namens Prilicla hier auftaucht, um meine Emotionen zu deuten?« empörte sich Hewlitt. »Mit Ausnahme dessen, daß mein Körper als eine Art lebendiges Forschungslabor für Auszubildende benutzt wird? Außerdem nehme ich an, daß mir Prilicla später sowieso nur erklären wird, daß mir nichts fehle und ich mir alles nur einbilde und mich zusammenreißen und nach Hause gehen solle, um anderen nicht ihre kostbare Zeit zu stehlen. Und ansonsten wollen Sie bis dahin überhaupt nichts unternehmen?«