»In ihrem gegenwärtigen Zustand ist Patientin Morredeth, bezüglich ihres Fells ungewöhnlich empfindlich«, erklärte ihm die Schwester, wobei die Sprechmembran so vibrierte, daß es einem hudlarischen Flüstern gleichkam. »Aber das konnten Sie natürlich nicht wissen. Sagen Sie mir doch bitte, worüber Sie genau gesprochen haben.«
Plötzlich fragte sich Hewlitt, ob es möglich sein könnte, daß nicht er die Schwester, sondern sie ihn ausnutzte. Vielleicht war sie ja sogar ganz froh darüber, sich die langweilige Nachtschicht interessanter zu gestalten, indem sie einem besorgten Patienten nichtmedizinische Hilfe leistete. Wahrscheinlich könnte sie diese Unterhaltung, die sich zu einem längeren Mitternachtsschwätzchen zu entwickeln schien, sogar gegenüber Oberschwester Leethveeschi rechtfertigen. Er ließ sich viel Zeit und wiederholte alles, bis er an dem Punkt anlangte, wo er den anderen das Verhalten seiner Katze beim Streicheln beschrieben hatte. Zwar war er der festen Überzeugung, daß ein Wesen, dessen Haut wie elastischer Stahl war, bei Ausdrücken wie ›Fell‹ oder ›Pelz‹ keine erotischen Phantasien bekommen würde, doch am Orbit Hospital konnte man sich anscheinend über nichts und niemanden sicher sein.
Als er zu Ende erzählt hatte, meinte die Schwester: »Jetzt verstehe ich. Doch bevor ich zu erklären versuche, was passiert ist, erzählen Sie mir bitte, was Sie über die kelgianische Lebensform wissen.«
»Ich kenne nur die Informationen, die in den kurzen Einführungspassagen der nichtmedizinischen Bibliothek über die Mitglieder der Föderation geliefert werden, wobei es sich in erster Linie um historisches Materialhandelt«, antwortete Hewlitt. »Die Kelgianer gehören der physiologischen Klassifikation DBLF an. Sie sind mehrfüßige Warmblüter und haben einen zylinderförmigen Körper, der vollständig mit einem beweglichen, silbergrauen Fell bedeckt ist. Dieses Fell ist ständig in Bewegung, wenn das Wesen bei Bewußtsein ist, und im geringeren Ausmaß auch dann, wenn es träumt.
Aufgrund der Unzulänglichkeiten des kelgianischen Sprechorgans mangelt es diesen Wesen an Modulationsmöglichkeiten oder an sonstigen emotionalen Ausdrucksweisen der Stimme. Allerdings gleichen sie diese Defizite mit dem Fell aus, das, soweit ein anderer Kelgianer betroffen ist, perfekt und unwillkürlich den Gefühlszustand des Sprechenden widerspiegelt. Infolgedessen können sie nicht lügen, und Begriffe wie Diplomatie, Taktgefühl oder Höflichkeit sind ihnen völlig fremd. Kelgianer sagen immer genau das, was sie denken oder fühlen, weil das Fell ohnehin ihre Emotionen alle Augenblicke widerspiegelt und es eine dumme Zeitverschwendung wäre, wenn sie es nicht täten. Habe ich soweit recht?«
»Ja«, bestätigte die Hudlarerin. »Wenngleich die medizinischen Bibliotheksdaten für Sie diesbezüglich von mehr Nutzen gewesen wären. Hat Morredeth ihren Gesundheitszustand Ihnen gegenüber denn genauer erörtert?«
»Nein. Als ich sie danach gefragt habe, sagte sie, daß sie nicht darüber reden wolle. Ich bin natürlich neugierig gewesen, ließ das Thema aber rasch fallen, da ich es für möglich hielt, daß ihre Gebrechen peinlich für sie sein könnten und mich das Ganze sowieso nichts anging.«
»Manchmal möchte Patientin Morredeth nicht über ihre Sorgen sprechen, und dann gibt es wieder Zeiten, da will sie unbedingt darüber reden. Wenn Sie sie morgen oder übermorgen danach fragen, wird sie Ihnen wahrscheinlich in allen Einzelheiten ihren Unfall schildern und auch die sich daraus ergebenden langfristigen Folgen, die für sie zwar sehr ernst, aber nicht lebensgefährlich sind. Ich sage Ihnen das nur, da fast jeder auf der Station über Morredeths Probleme Bescheid weiß. Deshalb breche ich der Patientin gegenüber auch nicht die Schweigepflicht, wenn ich diephysischen und emotionalen Aspekte ihres Krankheitszustandes mit Ihnen bespreche.«
»Ich verstehe«, murmelte Hewlitt nachdenklich.
»Nein, das können Sie gar nicht«, widersprach die Hudlarerin, wobei sie noch näher an das Bett herantrat und im selben Verhältnis die Stimme senkte. »Aber gleich werden Sie das verstehen. Falls Sie einige der von mir verwendeten Fachbegriffe nicht kennen, was angesichts Ihrer Krankengeschichte und der Erfahrungen, die Sie während Ihrer vorangegangenen Klinikaufenthalte gesammelt haben, unwahrscheinlich ist, dann unterbrechen Sie mich bitte, damit ich Ihnen eine für Laien verständliche Erklärung geben kann. Soll ich anfangen?«
Während Hewlitt den wuchtigen Körper der Schwester musterte, der auf den sechs Tentakeln ausbalanciert wurde, fragte er sich, ob es überhaupt irgendeine intelligente Spezies im All gab, die es – ganz unabhängig von ihrer Größe, Gestalt oder Anzahl der Gliedmaßen - nicht genoß, ein nettes Schwätzchen zu halten.
Da er sich jedoch daran erinnerte, was ihm ein paar unüberlegte Worte für Probleme mit Morredeth eingebracht hatten, stellte er diese Frage lieber nicht laut.
»Das Wichtigste, was Sie über die Anatomie der Kelgianer wissen sollten, ist, daß die DBLF-Klassifikation mit Ausnahme des dünnwandigen Schädelgehäuses, in dem sich das Gehirn befindet, kein Knochengerüst besitzt«, fuhr die hudlarische Schwester in demselben Ton fort, den Chefarzt Medalont bei seinen Auszubildenden anzuschlagen pflegte. »Der kelgianische Körper wird von einem aus Muskelbändern bestehenden äußeren Zylinder zusammengehalten. Abgesehen davon, daß er die Fortbewegung unterstützt, dient er auch als Schutz für die lebenswichtigen Organe. Für Wesen wie uns, deren Körper großzügig durch ein Knochengerüst verstärkt werden, scheint dieser Schutz bei weitem nicht ausreichend zu sein. Im Fall einer Verletzung ist das komplexe und äußerst anfällige Kreislaufsystem ein schwerwiegender Nachteil. Die gewaltigen Muskelstränge, die den ganzen Körper umschließen, werden durchBlutgefäße versorgt, die wie die Nervenverbindungen, die das bewegliche Fell kontrollieren, direkt unter der Haut entlangführen. Das dicke Fell bietet zwar etwas Schutz, jedoch nicht gegen solch tiefe Fleisch- und Rißwunden wie sie sich Patientin Morredeth zugezogen hat, als sie bei einer Weltraumkollision gegen ein Hindernis aus unebenem Metall geschleudert wurde …«
Wie die Schwester weiterhin ausführte, konnte eine Verletzung, die bei den meisten anderen Spezies nur oberflächlich gewesen wäre, bei Kelgianern bereits innerhalb weniger Minuten zum Verbluten führen.
Das blutgerinnungsfördernde Mittel, das gleich nach dem Unfall verabreicht worden war, hatte die Blutung unter Kontrolle gebracht und somit Morredeth das Leben gerettet, wenngleich zu einem hohen Preis. Auf dem Ambulanzschiff und später im Krankenhaus waren die wichtigsten verletzten Blutgefäße operiert worden, aber selbst das auf DBLF-Mikrochirurgie spezialisierte Ärzteteam des Orbit Hospitals war nicht in der Lage gewesen, die Kapillargefäße und die Nervenbahnen des vernichteten oder beschädigten Fells zu retten. Infolgedessen würde Morredeths wunderschönes Fell, das zum einen für das Tastgefühl wichtig war und zum anderen während der Liebeswerbung und der Vorbereitung auf die Paarung eine ästhetisch bedeutende Rolle spielte, an der betroffenen Stelle nie wieder richtig nachwachsen. Sollte es das wider Erwarten doch tun, wäre das Fell steif, vergilbt und leblos und deshalb optisch für ein anderes kelgianisches Wesen – egal, ob nun männlich oder weiblich – schrecklich abstoßend.