»Wo liegt denn nun das eigentliche Problem?« wollte Hewlitt wissen. »Sind nicht genügend Schiffe für eine Evakuierung vorhanden? Wenn es sich um ein Geheimnis handelt, behalten Sie es von mir aus für sich, aber das Personal hier weiß sehr wohl mit Notfällen umzugehen, zumindest mit medizinischen. Folglich würden alle sehr viel besser reagieren können, wenn sie in voller Kenntnis der Lage wären, so beängstigend diese auch sein mag.«
Während eines freien Abschnitts auf dem Flur steigerte Lioren die Schrittfrequenz und antwortete: »Genügend Schiffe für die Evakuierung des Orbit Hospitals zusammenzubekommen, sollte nicht das Hauptproblem sein, bedenkt man, wie schnell die Föderation in der Vergangenheit auf solche Katastrophen mit umfangreichen Hilfseinsätzen reagiert hat. Vielleicht kann niemand über das Problem sprechen, weil es selbst niemand versteht oder weil es mehr als lediglich ein Problem gibt.«
»Wollen Sie mich nur noch mehr verwirren, oder soll das eine Art Hinweis sein?« hakte Hewlitt nach.
Lioren ging auf die Frage nicht ein und fuhr fort: »Prilicla hat mir übrigens aus dem Speisesaal keine besonderen Vorkommnisse gemeldet. Keiner der Gäste, deren emotionale Ausstrahlung er prüfen konnte, war oder ist von der Virenkreatur befallen. Aufgrund seines geringen Durchhaltevermögens muß unser kleiner Freund leider erst einmal eine längere Ruhepause einlegen, bevor er die Suche wiederaufnehmen kann. Also sind wir beide zur Zeit die einzigen Wesen, die die Virenkreatur ausfindig machen können, und das, wie O'Mara sagt, unverzüglich. Außerdem sollen wir von nun an unsere Helme verschließen und ausschließlich die Sauerstofftanks benutzen, um beim Wechseln in unterschiedliche Umweltbedingungen keine kostbare Zeit zu verlieren.«»Dadurch sparen wir doch höchstens ein paar Minuten und…«, begann Hewlitt zu protestieren, gab sich aber geschlagen. »Ach, ist mir auch egal…«
Nach seiner Auffassung handelte es sich dabei trotzdem um eine törichte Anweisung, denn mit Ausnahme von zwei Stationen, die sie aufsuchen wollten, gehörten alle anderen zu warmblütigen Sauerstoffatmern, die ähnliche Druck- und Atmosphäreverhältnisse wie sie selbst benötigten. Vielleicht war ja sogar der Chefpsychologe aufgrund dieses ominösen Notfalls nicht mehr ganz Herr seiner Sinne.
Die nächste Station gehörte zu einer der wenigen im Orbit Hospital – die Chalderstation, die sie kurz zuvor besucht hatten, war eine weitere -, auf der nur eine einzige Patientenspezies behandelt wurde. Zum ersten Mal konnte er aus nächster Nähe und erschreckend klar und deutlich eine ganze Station voller illensanischer Körper sehen, die nicht von einer halb durchlässigen, chlorgefüllten Schutzhülle umgeben waren. Es erstaunte ihn nicht, daß keiner dieser Patienten die Virenkreatur beherbergt hatte, weil er sich selbst in seinen kühnsten Phantasien kein Wesen vorstellen konnte, das einen solchen Körper bewohnen wollte, so sehr sich dieses auch nach einem Wirt sehnen mochte.
Eine Station folgte der nächsten und damit einhergehend eine verblüffende Folge von Patienten und Mitarbeitern, von denen die meisten Lebensformen angehörten, die Hewlitt noch nie zuvor gesehen hatte. Zeit für einen großartigen Austausch von Fragen und Antworten war nicht vorhanden. Zwar waren diese Wesen keineswegs auch nur ansatzweise so abstoßend wie die Illensaner, dennoch stellten sie sich nicht als ehemalige Wirtskörper heraus. Die Geschwindigkeit, mit der er und Lioren die Besuche abstatteten, blieb natürlich genausowenig unkommentiert wie der von ihnen ausgehende Chlorgeruch, der noch immer an ihren Schutzanzügen haftete, aber die Gegenwart des Padre gewährleistete, daß sich die Bemerkungen immerhin in einem höflichen Rahmen hielten. Die Überprüfung der Wesen, denen sie in den Verbindungskorridoren begegneten, ergab ebenfalls ausschließlich negative Resultate.»Allmählich frage ich mich, ob wir uns mit unserer Wirtskörperwiedererkennungsfähigkeit nicht ein wenig überschätzen«, äußerte Hewlitt irgendwann erste Zweifel. »Sicherlich haben wir ein nur sehr schwer zu beschreibendes Gefühl füreinander, das man vielleicht am besten als eine Art Verbindung unter Leidensgenossen bezeichnen kann, aber möglicherweise ist diese Fähigkeit nur auf einige wenige beschränkt. Außerdem ist an dieser ganzen Situation sowieso etwas faul. Ich weiß zwar nicht genau, was, aber ich bin mir sicher, daß Sie es wissen und es mir eigentlich sagen könnten.«
Lioren blieb urplötzlich wie angewurzelt stehen, so daß Hewlitt erst einmal einige Schritte zurückkehren mußte. Die Ebenen mit den Patientenunterkünften und medizinischen Versorgungseinrichtungen schienen sie hinter sich gelassen zu haben, weil die Leute, die an ihnen vorbeikamen, die Overalls der Wartungsmannschaften trugen und an den Türen und Nebengängen Symbole angebracht waren, die auf Energieversorgungs- und Wärmeaustauschsysteme hinwiesen. Direkt über dem vor ihnen liegenden Schleusengang war eine Warnung vor radioaktiver Strahlung angebracht, und Hewlitt fragte sich, was sich dahinter verbergen könnte.
»Sind sie müde?« erkundigte sich Lioren.
»Nein«, antwortete Hewlitt. »Wollen Sie wieder mal das Thema wechseln?«
»Wie Sie vielleicht schon mitbekommen haben, bin ich hier am Orbit Hospital früher mal als Arzt ausgebildet worden«, sagte Lioren. »Was ich damit sagen will, ist, daß ich die terrestrische Physiologie gut genug kenne, um zu wissen, daß Sie irgendwann an die Grenzen Ihrer körperlichen Belastbarkeit geraten. Mittlerweile müßten sie sowohl sehr müde als auch extrem hungrig sein. Bei meinem nächsten und letzten Patientenbesuch handelt es sich übrigens um einen Angehörigen der Klassifikation VTXM. Das ist ein sogenannter Strahlenverwerter, der schon aus diesem Grund als Wirtskörper nicht in Frage kommt. Dieser Patient ist ebenfalls ein hoffnungsloser Fall. Ich habe ihn vor einiger Zeit zum ersten Mal besucht,und er hat mich darum gebeten, bis zu seinem Ende immer mal wieder nach ihm zu sehen. Sie könnten diese Gelegenheit dazu nutzen, etwas zu essen oder ein wenig zu schlafen.«
»Ich bin aber nicht müde«, wehrte sich Hewlitt. »Haben Sie vergessen, daß wir dank der Virenkreatur mit einer optimalen Gesundheit ausgestattet sind? Zu dieser Hinterlassenschaft gehört vermutlich auch, daß wir zu einem Höchstmaß an körperlicher Leistung befähigt sind und längst nicht so schnell erschöpft sind wie andere. Bedenkt man das enorme Ausmaß an körperlichen Aktivitäten, die wir in den letzten Stunden geleistet haben, dann gehe ich wahrscheinlich recht in der Annahme, daß Sie sich ebenfalls weniger müde fühlen, als es normalerweise der Fall sein müßte, stimmt's?«
»Ich streite mich nicht gerne mit Ihnen«, antwortete der Padre. »Vor allem dann nicht, wenn Sie, wie in diesem Fall, recht haben. Zur Zeit gehen mir allerdings sehr viel wichtigere Dinge durch den Kopf. Dennoch stimme ich Ihnen gern zu, daß wir längst nicht so müde sind, wie wir's sein müßten.«
Es war klar, daß Lioren verärgert über ihn war, wahrscheinlich aus verständlichen religiösen Gründen, zumal der Padre kurz vor einem wichtigen Krankenbesuch stand.