Diese Virenkreatur ist alt, sehr alt sogar …«
Wie Hewlitt weiter ausführte, war nichts darüber bekannt, durch welche umweltbedingten Einflüsse die Virenkreatur eine Intelligenz entwickeln konnte oder ob jemals andere Exemplare ihrer Gattung existiert hatten, so daß es sich bei der Entstehung dieses Wesens durchaus um einen genetischen Unfall gehandelt haben könnte und somit in seiner Art einzigartig war. Am Anfang waren die Wirte der Virenkreatur sehr klein gewesen, doch anstatt sie durch die unkontrollierte Ausbreitung von Viren zu infizieren und zu töten, wie es bei normalen Krankheitserregern der Fall wäre, versuchte sie, ihr eigenes langfristiges Überleben sicherzustellen,indem sie den optimalen physischen Zustand ihrer Wirtskörper so lange wie möglich aufrechterhielt. Sobald ein Wirtskörper trotz ihrer Bemühungen zu alt oder von einem größeren Raubtier getötet wurde, wechselte sie den Wirt, wobei im zweiten Fall das Raubtier automatisch zu ihrer neuen Heimat wurde.
Es mußten bereits etliche Jahrhunderte vergangen sein, ehe der hochintelligente und extrem langlebige Lonvellin den Heimatplaneten der Virenkreatur besuchte. Da dieser aufgrund der allgemein bekannten Annahme, daß fremdweltlerische Krankheitserreger einem nichts anhaben konnten, es für unnötig hielt, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, wurde er von diesem höchst ungewöhnlichen und einzigartigen Parasiten heimgesucht.
Instinktiv erkannte die Virenkreatur, daß sie einen Organismus gefunden hatte, den sie sehr lange am Leben erhalten konnte, doch war der neue Wirtskörper derart groß und fremd, daß sie große Anpassungsschwierigkeiten mit der neuen Umgebung hatte. Lonvellin hingegen, der während seines langen Lebens viele lästige und unangenehme Krankheiten gehabt haben mußte, dürfte die Gegenwart und die Fähigkeiten seines Leibarztes von der Tatsache abgeleitet haben, daß seine früheren Gebrechen plötzlich nicht mehr auftraten. Doch damals konnte die Virenkreatur weder mit ihrem Wirt kommunizieren, noch war sie sich der Gründe bewußt, weshalb gewisse metabolische Prozesse in dem riesigen und komplizierten Körper stattfanden. Alles, was sie damals tun konnte, war, den physiologischen Zustand ihres Wirtskörpers im selben Zustand aufrechtzuerhalten, wie sie ihn vorgefunden hatte.
Die Virenkreatur beging auch Fehler.
Einer davon brachte Lonvellin sogar ins Orbit Hospital; nämlich ihr stures Festhalten an abgestorbenen Körperzellen, die normalerweise abgestoßen und durch nachwachsende ersetzt worden wären. Ein weiterer war, sich vom damaligen Chefarzt Conway aus dem Wirtskörper herauslocken zu lassen, wodurch sie sich als separates Wesen offenbarte. Zu diesem Zeitpunkt ihrer rasch fortschreitenden evolutionären Entwicklung war die Virenkreatur zwar intelligent, stellte sich aber nicht unbedingt gescheit an.Nachdem sie von Lonvellin als Leibarzt beansprucht worden war, reiste sie mit ihm nach Etla, wo sie nur knapp der Detonation einer Atombombe entging, durch die ihr Wirt umkam. Durch die Folgen dieser Explosion wäre die Virenkreatur fast selbst gestorben, doch führten sie bei ihr statt dessen zu organischen Mutationen, die sie dazu befähigten, sich später sogar dem Wirtskörper eines strahlenverwertenden Telfi anzupassen.
Sie rettete Hewlitt als Kind gleich zweimal das Leben; einmal nach dessen Obstvergiftung und dem normalerweise tödlichen Sturz vom Baum und ein zweites Mal nach dem folgenden Flugzeugabsturz. Dennoch beging sie immer noch dieselben Fehler wie früher, wie zum Beispiel den Blutkreislauf durch einen Herzstillstand kurzfristig zum Stehen zu bringen, damit sie die Wirkung eines verabreichten Medikaments schneller zunichte machen konnte, was letztendlich zur Einlieferung des erwachsenen Hewlitt ins Orbit Hospital führte. Allerdings war sie lernfähig und wurde sich zunehmend ihrer eigenen wie auch der Gefühle und Gedanken ihres Wirtskörpers bewußt. Zwar begann dieser Prozeß bereits mit Lonvellin, doch stellte sich der Zwischenfall mit der verwundeten Katze als sehr viel wichtiger heraus, als man bislang vermutet hatte, denn zum ersten Mal war die Virenkreatur durch psychologische Faktoren dazu gebracht worden, die Wirtskörper zu wechseln, insbesondere durch den emotionalen Druck, der durch ein um seine sterbende Katze trauerndes Kind auf sie ausgeübt worden war.
»… dieser Wechsel war nur vorübergehend, weil es nicht im Interesse der Virenkreatur sein konnte, von einem langlebigen in einen kleinen und kurzlebigeren Wirtskörper umzuziehen«, fuhr Hewlitt fort. »Damals wurde sie in erster Linie von ihrer Neugierde und der damit einhergehenden Freude am Experimentieren getrieben, aber auch von dem unbändigem Willen, bis in eine unbestimmte Zukunft hinein zu überleben. Doch standen ihr eine lange Zeit nur Terrestrier wie ich zur Verfügung, und die Funktionsweise des menschlichen Körpers hatte sie noch nicht ganz verstanden. Nach meiner Ankunft hier im Orbit Hospital wurde sie immer neugieriger, nahm ihre Umgebung bewußter wahr und sehnte sich nach denneuen Erfahrungen, die sie an einem solchen Ort machen konnte, zumal es hier von höchst interessanten und langlebigen und somit potentiellen Wirtskörpern nur so wimmelt. Als sie meine Besorgnis und mein Mitleid für Patientin Morredeth spürte und ich mehr oder weniger unfreiwillig – vielleicht wurde ich aber auch unterbewußt von der Virenkreatur dazu gedrängt – die Stelle, wo Morredeths Fell beschädigt war, mit den Händen berührte, okkupierte sie zum ersten Mal einen kelgianischen Körper. Später siedelte sie zum Padre und schließlich zu Cherxic über und suchte dann abwechselnd die überlebenden Teilwesen der Gesamtgestalt des Telfi-Schiffs auf, wo die letzte und einschneidendste Anpassung stattfand, auch wenn es sich dabei nach ihrer eigenen Überzeugung noch längst nicht um das Ende ihres Entwicklungsprozesses handelt. Von den telepathischen und auf verschiedene Aufgaben spezialisierten Teilwesen der Telfigestalt lernte sie, mit ihren wechselnden Wirtskörpern von Verstand zu Verstand zu kommunizieren und die Grundlage der telfischen Strahlenverwertung sozusagen bis ins letzte atomare Elementarteilchen zu verstehen und zu beherrschen. Die von den Telfis angeregten Experimente mit dem Energieversorgungssystem des Orbit Hospitals waren Bestandteil dieses Lernprozesses.
Jetzt hat die Virenkreatur alles, was sie für die Zukunft benötigt. Einzelne Telfis werden sterben, wenngleich jetzt längst nicht mehr so häufig wie früher, da sie nun über einen sehr mobilen Arzt verfügen, aber die Telfigestalt wird immer wieder Teilwesen ersetzen müssen oder sich erweitern und so für einen ständigen Informationsfluß und Erfahrungsaustausch sorgen. Somit hat die Virenkreatur ihre perfekte Wirtskörperspezies gefunden. Mit dem Willen zur Zusammenarbeit und dem Strahlenabsorptionsmechanismus der Telfigestalt als Starthilfe wird sie an Größe, Intelligenz und Energie zunehmen und sich fortwährend weiterentwickeln, bis sie in der Lage ist, Sonnen zu besiedeln, selbst auf die Gefahr hin, sich dabei selbst umzubringen. Das Orbit Hospital wird mit der Virenkreatur nie wieder Probleme haben.«
Hewlitt konnte in seinem Kopfhörer bis auf einige ungläubige Zischlautenichts hören, bis sich schließlich eine Stimme zu Wort meldete, die so leise und emotionsgeladen klang, daß sie nicht zu identifizieren war.
»Also beabsichtigt die Virenkreatur, die Sterne zu infizieren und zu besiedeln. Ich bezweifle nicht, daß sie meint, was sie sagt, schließlich wissen wir ja bereits, daß man mit dem Verstand nicht lügen kann. Das könnte das Ende eines ungehinderten Kontakts zwischen den verschiedenen Spezies einläuten und letztendlich zum Zusammenbruch der Föderation führen. Vielleicht bedeutet es sogar das Ende allen intelligenten Lebens, weil die Mitgliedswelten von unkontrollierbaren speziesübergreifenden Seuchen heimgesucht werden, wenn wir nicht sofort etwas dagegen unternehmen. Es tut uns schrecklich leid, Hewlitt, aber dazu gehört auch, daß wir Lioren, Morredeth, die telfische Schiffsbesatzung, Sie selbst und sogar das Haustier aus Ihrer Kindheit von allen zukünftigen Kontakten mit anderen Wesen für den Rest ihres Lebens isolieren müssen.«