Ich habe Berechnungen angestellt und die wohlbegründeten Ergebnisse der Relativitätstheorie benutzt. Für die Passagiere eines der Overlord-Schiffe dauert die Reise zum NGS 549.672 nicht länger als zwei Monate, wenn auch nach unseren irdischen Begriffen vierzig Jahre vergehen werden. Ich weiß, daß dies paradox klingt, und wenn es Dir ein Trost ist, kann ich Dir sagen, daß es die besten Köpfe der Welt beschäftigt hat, seit Einstein es verkündete.
Vielleicht zeigt Dir dieses Beispiel, was für Dinge geschehen können, und es wird Dir ein klareres Bild von der Situation geben. Wenn die Overlords mich sofort zur Erde zurückschicken, so werde ich daheim nur um vier Monate älter geworden ankommen. Aber auf der Erde selbst werden achtzig Jahre vergangen sein. Du verstehst also, Maja: Was auch geschieht, dies ist ein Lebewohl.
Ich habe hier wenig, was mich bindet, was Du ja weißt; ich kann also mit ruhigem Gewissen gehen. Ich habe es unserer Mutter noch nicht gesagt, sie würde sich schrecklich aufregen, und das könnte ich nicht mit ansehen. Es ist besser so. Obwohl ich versucht habe, seit dem Tode unseres Vaters Nachsicht zu üben — nun, es hat keinen Sinn, über das alles jetzt wieder zu reden.
Alles ist geregelt, und Du brauchst Dir über nichts Sorgen zu machen.
Vielleicht hältst Du mich für närrisch, da es unmöglich erscheint, daß irgend jemand eines der Schiffe der Overlords betreten kann. Aber ich habe einen Weg gefunden. Er bietet sich nicht sehr oft und nach diesem Vorfall vielleicht nie wieder, denn ich bin überzeugt, daß Karellen den gleichen Fehler nie zweimal macht. Kennst Du die Sage von dem hölzernen Pferd, das die griechischen Soldaten in die Stadt Troja brachte? Aber es gibt im Alten Testament eine Erzählung, die der Sache noch näher kommt.“
„Sie werden es sicherlich viel bequemer haben als Jonas“, sagte Sullivan. „Man hat nie gehört, daß er elektrisches Licht und sanitäre Anlagen zur Verfügung hatte. Aber Sie werden eine, Menge Vorräte brauchen, und ich sehe, daß Sie Sauerstoff mitnehmen. Können Sie für eine zweimonatige Reise in so kleinem Raum genügend mitnehmen?“
Er deutete mit dem Finger auf die sorgfältigen Zeichnungen, die Jan auf den Tisch gelegt hatte. Das Mikroskop diente an dem einen Ende als Briefbeschwerer, der Schädel irgendeines unwahrscheinlichen Fisches hielt das andere Ende fest.
„Ich hoffe, der Sauerstoff wird nicht nötig sein“, sagte Jan. „Wir wissen, daß sie unsere Atmosphäre atmen können, aber sie scheinen sie nicht gerade zu lieben, und ich bin vielleicht nicht imstande, mit der ihren zurechtzukommen. Was die Nahrung betrifft, so wird diese Frage dadurch gelöst, daß ich Narkosamin nehme. Das ist völlig sicher. Wenn wir unterwegs sind, gebe ich mir eine Spritze, die mich für sechs Wochen und ein paar Tage bewußtlos macht, also fast bis zu meiner Ankunft dort. Übrigens betraf meine Sorge weniger die Nahrung und den Sauerstoff als vielmehr die Langeweile.“
Professor Sullivan nickte nachdenklich. „Ja, Narkosamin ist eine sichere Sache und kann sehr genau dosiert werden. Aber sorgen Sie dafür, daß Sie viel Nahrung bereit haben — Sie werden heißhungrig sein, wenn Sie erwachen, und so schwach wie ein Kätzchen. Wenn Sie nun verhungern müssen, weil Sie nicht die Kraft haben, einen Dosenöffner zu benutzen?“
„Daran habe ich gedacht“, sagte Jan etwas gekränkt. „Ich werde mich auf übliche Weise durch Traubenzucker und Schokolade wieder zu Kräften bringen.“
„Gut. Ich freue mich, daß Sie alles gründlich überlegt haben und es nicht als einen besseren Jux ansehen, aus dem Sie wieder aussteigen können, wenn Ihnen nicht alles paßt. Es ist Ihr Leben, mit dem Sie spielen, aber mir wäre es schrecklich, wenn ich das Gefühl haben müßte, daß ich Ihnen half, Selbstmord zu begehen.“
Er ergriff den Fischschädel und wog ihn gedankenlos in der Hand. Jan hielt den Plan fest, damit er sich nicht zusammenrollte.
„Glücklicherweise“, fuhr Professor Sullivan fort, „ist die Ausrüstung, die Sie brauchen, durchaus normal, und unsere Werkstatt kann sie in wenigen Wochen zusammenstellen. Und wenn Sie doch noch Ihren Entschluß ändern sollten.“
„Das werde ich nicht tun“, sagte Jan.
„Ich habe alle Gefahren, denen ich mich aussetze, erwogen, und der Plan scheint keinen Fehler zu haben. Nach sechs Wochen melde ich mich wie irgendein blinder Passagier. Dann wird — nach meiner Zeit gerechnet — die Reise fast beendet sein. Wir werden im Begriff stehen, auf der Welt der Overlords zu landen. Was dann geschieht, liegt natürlich in ihrer Hand. Wahrscheinlich werde ich mit dem nächsten Schiff nach Hause zurückgeschickt, aber immerhin kann ich erwarten, wenigstens einiges zu sehen. Ich nehme eine Vier-Millimeter-Kamera und ein paar tausend Meter Film mit. Es wird nicht meine Schuld sein, wenn ich sie nicht benutzen kann. Schlimmstenfalls habe ich bewiesen, daß man Menschen auf die Dauer nicht in Quarantäne halten kann. Ich habe dann einen Präzedenzfall geschaffen, der Karellen zwingen wird, irgend etwas zu unternehmen.
Dies, meine liebe Maja, ist alles, was ich Dir zu sagen habe. Ich weiß, Du wirst mich nicht sehr vermissen. Wir wollen ehrlich zugeben, daß wir nie sehr stark miteinander verbunden waren, und nachdem Du Rupert geheiratet hast, wirst Du in Deiner eigenen privaten Welt vollkommen glücklich sein. Wenigstens hoffe ich das.
Also leb wohl und viel Glück! Ich freue mich darauf, Deinen Enkeln zu begegnen. Bitte sorge dafür, daß sie etwas von mir wissen.
Dein Dich liebender Bruder Jan.“
9
Als Jan es das erstemal sah, konnte er sich kaum vorstellen, daß er nicht den Rumpf eines kleinen Luftschiffes vor sich hatte, das zusammengefügt wurde. Das Metallgestell war zwanzig Meter lang, stromlinienförmig und von einem leichten Gerüst umgeben, auf dem die Arbeiter mit ihren Werkzeugmaschinen herumkletterten.
„Ja“, sagte Sullivan als Antwort auf Jans Frage, „wir wenden die übliche aeronautische Technik an, und die meisten dieser Leute kommen aus der Flugzeugindustrie. Es ist kaum zu glauben, daß ein Ding dieser Größe lebendig sein könnte, nicht wahr? Oder daß es aus dem Wasser herausschnellen kann, wie ich es gesehen habe.“
Es war alles sehr fesselnd, aber Jan hatte andere Dinge im Kopf. Seine Augen schweiften über den riesigen Rumpf, um einen geeigneten Platz für seine kleine Zelle, den „Sarg mit Luftloch“, wie Sullivan sie getauft hatte, zu finden. In einem Punkt fühlte er sich sofort beruhigt. Was den Platz anbetraf, so würde hier Raum für ein Dutzend blinder Passagiere sein.
„Das Skelett sieht fast fertig aus“, sagte Jan. „Wann werden Sie die Haut überziehen? Ich vermute, Sie haben Ihren Wal schon gefangen, denn sonst wüßten Sie nicht, wie groß Sie den Rumpf machen müßten.“
Sullivan schien durch diese Bemerkung sehr belustigt zu sein.
„Wir haben nicht die geringste Absicht, einen Wal zu fangen.
Übrigens haben Wale kein Häute im eigentlichen Sinn des Wortes. Es wäre kaum möglich, eine Decke aus zwanzig Zentimeter dickem Speck über dieses Gerüst zu spannen. Nein, das ganze Ding wird mit Kunststoff belegt und dann sorgfältig angemalt. Wenn es fertig ist, wird niemand den Unterschied sehen können.“
Dann, dachte Jan, wäre es doch für die Overlords das vernünftigste gewesen, Fotos aufzunehmen und das lebensgroße Modell auf ihrem Heimatplaneten selbst herzustellen. Aber vielleicht kehrten ihre Versorgungsschiffe leer zurück, und ein kleines Ding wie ein zwanzig Meter langer Pottwal würde kaum bemerkt werden. Wenn man so viel Kraft und so viele Hilfsquellen besaß, konnte einem nicht an kleineren Ersparnissen liegen.
Professor Sullivan stand neben einer der großen Plastiken, die seit Entdeckung der Osterinsel für die Archäologie ein so großes Rätsel gewesen waren. Wen sie nun auch darstellen mochte, ob König, ob Gott, ihre blinden Augen schienen seinem Blick zu folgen, während er auf seine Arbeit schaute. Er war stolz auf sein Werk; es war bedauerlich, daß es bald für immer dem menschlichen Betrachter entzogen wurde.