Eine Stunde später war er davon überzeugt. Er legte sich auf das Schaumgummilager und überdachte nochmals sein Vorhaben. Das einzige Geräusch war das leise Surren der elektrischen Kalenderuhr, die ihm mitteilen würde, wenn die Reise sich ihrem Ende näherte.
Er wußte, daß er erwarten konnte, hier in seiner Zelle nichts zu spüren, denn die gewaltigen Kräfte, die die Schiffe der Overlords antrieben, mußten völlig ausgeglichen sein. Sullivan hatte das festgestellt, indem er darauf verwies, daß sein Werk zusammenfiele, wenn es auch nur ganz wenigen Gravitäten ausgesetzt würde. Seine „Kunden“ hatten ihm versichert, daß in dieser Hinsicht keine Gefahr bestehe.
Es würde jedoch eine erhebliche Veränderung des Luftdrucks eintreten. Das war unwichtig, da die hohlen Modelle durch mehrere Öffnungen „atmen“ konnten. Bevor Jan seine Zelle verließ, mußte er den Luftdruck ausgleichen, denn er hatte angenommen, daß die Luft im Overlord-Schiff für ihn nicht zu atmen sei. Eine einfache Sauerstoffmaske würde dem abhelfen; es waren keine großen Vorkehrungen nötig. Wenn er ohne technische Hilfe atmen konnte, um so besser!
Es hatte keinen Sinn, länger zu warten: Es würde nur seine Nerven beunruhigen. Er holte die kleine Spritze heraus, die bereits mit der sorgfältig vorbereiteten Lösung gefüllt war. Narkosamin war bei Erforschung des Winterschlafs der Tiere entdeckt worden: Man konnte nicht sagen, daß es, wie vielfach angenommen wurde, das Leben suspendieren könne. Es hatte keine weiteren Wirkungen, als die Lebensvorgänge sehr zu verlangsamen, jedoch so, daß der Stoffwechsel in vermindertem Maße noch erhalten blieb. Es war, als hätte jemand das Feuer des Lebens zugeschüttet, so daß es unter der Asche noch glimmte. Aber wenn nach Wochen oder Monaten die Wirkung des Mittels nachließ, so flammte das Leben auf, und der Schläfer kam wieder zu sich. Narkosamin war völlig sicher. Die Natur hatte es seit Jahrmillionen benutzt, um viele ihrer Kinder vor dem nahrungslosen Winter zu schützen.
Jan schlief also. Er spürte nicht den Ruck der Kabel, als das riesige Metallgerüst in den Laderaum des Transportschiffs der Overlords gehoben wurde. Er hörte nicht, wie sich die Schleusentore schlössen, um sich erst nach dreihundert Millionen mal Millionen Kilometern wieder zu öffnen. Er hörte 127
Millionen Kilometern wieder zu öffnen. Er hörte nicht, fern und schwach durch die mächtigen Wände, das protestierende Kreischen der Erdatmosphäre, als das Schiff rasch zu seinem natürlichen Element emporstieg.
Und er spürte nicht, wie die Fahrt verlief.
10
Der Konferenzraum war bei diesen wöchentlichen Versammlungen immer gefüllt, aber heute war er so gedrängt voll, daß die Reporter kaum Platz zum Schreiben hatten. Zum hundertstenmal murrten sie untereinander über Karellens konservative Art und seinen Mangel an Rücksicht. Überall in der Welt hätten sie Fernsehkameras, Tonbandgeräte und alle andern Werkzeuge ihres hochtechnisierten Berufs mitbringen können, aber hier mußten sie sich mit so vorzeitlichen Hilfsmitteln wie Papier und Bleistift begnügen und sogar, so unglaublich es klingt, mit Stenographie.
Man hatte natürlich verschiedentlich versucht, Tonbandgeräte einzuschmuggeln. Sie waren erfolgreich wieder hinausgeschmuggelt worden, aber ein einziger Blick auf ihr rauchendes Inneres hatte die Nutzlosigkeit dieses Versuchs gezeigt. Damals hatten alle begriffen, warum sie immer ermahnt worden waren, in ihrem eigenen Interesse Uhren und andere Metallgegenstände nicht mit in den Konferenzraum zu nehmen.
Um die Situation noch ungerechter zu machen, nahm Karellen selbst die ganzen Unterredungen auf Tonband auf. Berichterstatter, die sich der Nachlässigkeit oder gar einer falschen Wiedergabe schuldig machten — obwohl dies sehr selten vorkam — waren zu kurzen und unangenehmen Konferenzen mit Karellens Untergebenen geladen und ersucht worden, aufmerksam der Wiedergabe dessen zuzuhören, was der Oberkontrolleur wirklich gesagt hatte. Diese Lektion brauchte nie wiederholt zu werden.
Es war seltsam, wie diese Gerüchte sich verbreiteten. Es gab keine vorherige Ankündigung, und doch war das Haus immer voll, wenn Karellen eine wichtige Mitteilung zu machen hatte, was durchschnittlich zwei- oder dreimal jährlich vorkam.
Stille senkte sich über die murmelnde Menge, als die große Tür sich öffnete und Karellen die Tribüne betrat. Die Beleuchtung hier war matt, ohne Zweifel dem Licht der weit entfernten Sonne der Overlords ähnlich, so daß der Oberkontrolleur die dunkle Brille abgelegt hatte, die er für gewöhnlich trug, wenn er im Freien war.
Er antwortete auf den Chor der Begrüßungen mit einem formellen: „Guten Morgen allseits“, dann wandte er sich zu der schlanken, vornehmen Gestalt in der vordersten Reihe. Auf den Doyen des Presseklubs, Golde, hätte die Meldung des Dieners gepaßt: Zwei Reporter und ein Gentleman von der „Times“. Er kleidete und benahm sich wie ein Diplomat der alten Schule. Niemand würde je zögern, ihm zu vertrauen, und niemand hatte es in der Folge je bereut.
„Sehr voll heute, Herr Golde. Wahrscheinlich mangelt es an Neuigkeiten.“
Der Herr von der „Times“ lächelte und räusperte sich. „Ich hoffe, Sie können dem abhelfen, Herr Oberkontrolleur.“
Er beobachtete Karellen gespannt, während dieser seine Antwort überlegte. Es war unangenehm, daß die maskenhaften Gesichter der Overlords keine Spur von Erregung verrieten. Die großen, weitgeöffneten Augen, deren Pupillen selbst in diesem matten Licht scharf zusammengezogen waren, starrten unergründlich in die unverkennbar neugierigen menschlichen Augen. Die doppelten Atmungsöffnungen auf jeder Wange, wenn man die zerfurchten und gekräuselten erstarrten Wölbungen Wangen nennen konnte, gaben ein ganz leises Pfeifen von sich, wenn Karellens vermutliche Lungen in der dünnen Luft der Erde atmeten. Golde konnte genau erkennen, wie der Vorhang von feinen weißen Haaren hin und her flatterte und sich im Einklang mit Karellens raschem, doppeltwirkendem Atmungskreislauf hielt. Man nahm im allgemeinen an, daß sie Staubfilter wären, und es hatten sich weitschweifige Theorien über die Atmosphäre in der Heimat der Overlords auf diese gebrechlichen Fundamente gestützt.
„Ja, ich habe einige Neuigkeiten für Sie. Wie Sie zweifellos wissen, hat eines meiner Versorgungsschiffe kürzlich die Erde verlassen, um zu seinem Stützpunkt zurückzukehren. Wir haben soeben entdeckt, daß ein blinder Passagier an Bord war.“
Hundert Bleistifte hielten plötzlich an. Hundert Augenpaare richteten sich auf Karellen.
„Ein blinder Passagier, sagen Sie, Herr Oberkontrolleur?“ fragte Golde. „Dürfen wir erfahren, wer es war und wie er an Bord ge kommen ist?“
„Sein Name ist Jan Rodricks. Er ist Student des Maschinenbaus an der Universität Kapstadt. Weitere Einzelheiten können Sie zweifellos durch Ihre eigenen, sehr guten Kanäle feststellen.“ Karellen lächelte. Das Lächeln des Oberkontrolleurs war eine seltsame Sache. Der größte Teil seiner Wirkung lag tatsächlich in den Augen: Der unbewegliche, lippenlose Mund bewegte sich kaum. War dies wieder eine der menschlichen Gewohnheiten, die Karellen mit so großer Geschicklichkeit nachgeahmt hatte? fragte sich Golde. Denn die Gesamtwirkung war zweifellos die eines Lächelns, und man nahm es bereitwillig als solches auf.
„Wie er es angestellt hat“, fuhr der Oberkontrolleur fort, „ist von zweitrangiger Bedeutung. Ich kann Ihnen und allen unternehmungslustigen Astronauten versichern, daß es keine Möglichkeit gibt, diese Heldentat zu wiederholen.“
„Was wird diesem jungen Mann geschehen?“ beharrte Golde. „Wird er zur Erde zurückgeschickt werden?“
„Das steht außerhalb meiner Entscheidung, aber ich erwarte, daß er mit dem nächsten Schiff zurückkommt. Er würde dort, wohin er gereist ist, die Bedingungen zu — fremd finden, um sich wohl zu fühlen. Und das bringt mich auf den Hauptzweck unserer heutigen Versammlung.“
Karellen machte eine Pause, und die Stille wurde noch tiefer.