Manche auf der Insel begrüßten diesen Besuch als eine Gelegenheit, etliche der kleineren Rätsel der Overlord-Psychologie zu lösen, nämlich ihr Verhältnis zur Kunst. Betrachteten sie Kunst als eine kindische Verirrung der menschlichen Rasse? Besaßen sie selbst irgendeine Form von Kunst? War in diesem Falle der Zweck des Besuchs rein ästhetisch, oder hatte Karellen weniger harmlose Beweggründe?
All diese Angelegenheiten wurden endlos erörtert, während man die Vorbereitungen traf. Man wußte nichts über den Overlord, dessen Besuch erwartet wurde, aber man nahm an, daß er Kultur in unbegrenztem Umfang in sich aufnehmen könne. Wenigstens würde das Experiment versucht und das Verhalten des Opfers von einer Schar sehr kluger Köpfe beobachtet werden.
Der jetzige Ratspräsident war der Philosoph Charles Yan Sen, ein ironischer, aber im Grunde heiterer Mann, noch nicht sechzig Jahre alt und daher noch in der Blüte des Lebens. Plato hätte in ihm das Beispiel des Philosophen-Staatsmannes gesehen, obwohl Sen keineswegs mit Plato einverstanden war, den er im Verdacht hatte, Sokrates gröblich mißzuverstehen. Sen war einer der Inselbewohner, die entschlossen waren, den Besuch nach Möglichkeit auszunutzen, wenn auch nur, um den Overlords zu zeigen, daß die Menschen noch sehr viel Initiative besaßen und noch nicht, wie er es ausdrückte, völlig gezähmt waren.
Nichts in Neu-Athen wurde ohne eine Kommission getan, dieses letzte Merkmal der Demokratie. Tatsächlich hatte irgend jemand einmal die Kolonie als ein System von ineinandergreifenden Kommissionen bezeichnet. Aber das System funktionierte, dank der geduldigen Studien der Sozialpsychologen, die die wirklichen Gründer Neu-Athens gewesen waren. Da die Gemeinschaft nicht allzu groß war, konnte jeder an der Verwaltung Anteil nehmen und im besten Sinne des Wortes ein Bürger sein.
Es war fast unvermeidlich, daß George, als führendes Mitglied der Künstlerhierarchie, dem Empfangskomitee angehörte. Aber er traf seine Maßnahmen. Wenn die Overlords die Kolonie studieren wollten, wünschte George sie gleichfalls zu studieren. Jean war nicht sehr glücklich darüber. Seit jenem Abend bei Rupert Boyce empfand sie eine gewisse Feindseligkeit gegen die Overlords, obwohl sie keinen Grund dafür angeben konnte. Sie wünschte nur, so wenig wie möglich mit ihnen zu tun zu haben, und für sie war einer der Hauptanziehungspunkte der Insel die erhoffte Unabhängigkeit gewesen. Jetzt fürchtete sie, daß diese Unabhängigkeit bedroht sein könne.
Der Overlord traf ganz zwanglos in einem gewöhnlichen, von Menschen gebauten Flugzeug ein, zur Enttäuschung derjenigen, die etwas Sensationelles erwartet hatten. Es hätte Karellen selbst sein können, denn niemand war jemals imstande gewesen, mit einiger Zuverlässigkeit einen Overlord von einem anderen zu unterscheiden. Sie schienen alle mit Hilfe des gleichen Prägestocks hergestellt worden zu sein. Vielleicht waren sie es sogar — durch einen unbekannten biologischen Vorgang.
Nach dem ersten Tage hörten die Inselbewohner auf, dem Regierungswagen besondere Aufmerksamkeit zu schenken, wenn er auf seinen Besichtigungsfahrten vorbeibrummte. Der richtige Name des Besuchers, Thanthalteresco, erwies sich für den allgemeinen Gebrauch als zu schwierig, und er wurde bald „der Inspektor“ genannt. Das war ein recht passender Name, denn seine Wißbegier und sein Verlangen nach statistischem Material waren unersättlich.
Charles Yan Sen war ganz erschöpft, als er lange nach Mitternacht den Inspektor zu dem Flugzeug zurückbegleitet hatte, das als sein Stützpunkt diente. Dort würde er zweifellos die Nacht durcharbeiten, während seine menschlichen Gastgeber sich der Schwäche des Schlafes hingaben.
Frau Sen begrüßte ihren Mann bei seiner Rückkehr voller Sorge. Sie hingen sehr aneinander, obwohl er sie scherzhaft Xanthippe nannte, wenn sie Gäste hatten. Sie hatte vor langer Zeit gedroht, die passende Rache zu nehmen, indem sie ihm einen Schierlingsbecher braute, aber glücklicherweise war dieses Kraut im neuen Athen weniger alltäglich als im alten.
„War es ein Erfolg?“ fragte sie, als ihr Mann sich zu einer verspäteten Mahlzeit niederließ.
„Ich glaube schon, aber man kann nie sagen, was in diesen merkwürdigen Köpfen vorgeht. Er war bestimmt interessiert und machte uns sogar Komplimente. Ich habe mich übrigens dafür entschuldigt, daß ich ihn nicht hierher eingeladen habe. Er sagte, das verstehe er durchaus, und er habe keine Lust, sich den Kopf an unserer Zimmerdecke zu stoßen.“
„Was hast du ihm heute gezeigt?“
„Die geschäftliche Seite der Kolonie, die er nicht so langweilig zu finden schien, wie ich es immer tue. Er stellte jede Frage, die du dir nur vorstellen kannst, über Produktion, über unser Budget, unsere Erzvorkommen, die Geburtenziffer, wie wir unsere Nahrung bekommen und so weiter. Glücklicherweise hatte ich Sekretär Harrison bei mir, und er hatte alle Jahresberichte seit Bestehen der Kolonie mitgebracht. Du hättest hören müssen, wie sie mit den Statistiken um sich warfen. Der Inspektor hat sich die Akten ausgeliehen, und ich möchte wetten, daß er, wenn wir ihn morgen sehen, uns alle Zahlen nennen kann. Ich empfinde diese Art geistiger Leistungen sehr bedrückend.“
Er gähnte und begann lustlos in seinem Essen zu stochern.
„Morgen dürfte es interessanter werden. Wir besichtigen die Schulen und die Akademie. Dann werde ich zur Abwechslung einige Fragen stellen. Ich möchte wissen, wie die Overlords ihre Kinder erziehen, angenommen natürlich, daß sie überhaupt Kinder haben.“
Diese Frage sollte Charles Sen nie beantwortet bekommen, aber in anderen Punkten war der Inspektor auffallend gesprächig. Er pflegte unangenehmen Fragen in einer Art auszuweichen, die erfreulich anzusehen war, doch dann wurde er wieder, ganz unerwartet, geradezu vertrauensselig.
Das erste wirklich intime Gespräch hatten sie, als sie von der Schule, die der Hauptstolz der Kolonie war, wegfuhren. „Es ist eine große Verantwortung“, hatte Dr. Sen bemerkt, „diese jungen Gemüter für die Zukunft zu schulen. Glücklicherweise sind menschliche Wesen widerstandsfähig. Nur eine sehr schlechte Erziehung kann dauernden Schaden anrichten. Selbst wenn unsere Ziele mißverstanden werden, dürften unsere kleinen Opfer wahrscheinlich darüber hinwegkommen. Und wie Sie gesehen haben, scheinen sie völlig glücklich zu sein.“ Er hielt einen Augenblick inne, dann blickte er verschmitzt auf die hochaufragende Gestalt seines Begleiters. Der Inspektor war völlig in ein die Sonnenstrahlen zurückwerfendes, silberiges Gewand gehüllt, so daß nicht ein Zentimeter seines Körpers dem starken Sonnenlicht ausgesetzt war. Dr. Sen bemerkte, daß die großen Augen hinter der großen Brille ihn gefühllos beobachteten oder vielleicht auch mit Gefühlen, die er nicht verstehen konnte.
„Unser Problem bei der Erziehung dieser Kinder muß, nehme ich an, sehr ähnlich sein wie das Ihre, wenn Sie mit der menschlichen Rasse zu tun haben. Meinen Sie nicht auch?“
„Gewissermaßen“, gab der Overlord ernst zu. „Aber man kann vielleicht einen noch besseren Vergleich in der Geschichte Ihrer Kolonialmächte finden. Das Römische und das Britische Reich sind uns aus diesem Grunde immer sehr interessant gewesen. Der Fall Indien ist besonders lehrreich. Der Hauptunterschied zwischen uns und den Briten in Indien war, daß sie keine wirklichen Beweggründe hatten, dorthin zu gehen — keine bewußten Ziele, das heißt, abgesehen von so alltäglichen und vorübergehenden wie Handel oder Feindschaft gegen andere europäische Mächte. Sie fanden sich als Besitzer eines Reiches, ehe sie wußten, was sie damit anfangen sollten, und waren nie wirklich glücklich, bis sie es wieder losgeworden waren.“