Wider Willen mußte Stormgren lächeln. „Das nützt mir nicht viel, nicht wahr? Ich muß hinunter zu meinen Mitmenschen und sie davon überzeugen, daß Sie, obwohl Sie nicht erscheinen wollen, nichts zu verbergen haben. Das ist keine leichte Aufgabe. Neugier ist eine der vorherrschendsten menschlichen Eigenschaften. Sie können sie nicht ewig unbeachtet lassen.“
„Von allen Problemen, denen wir uns gegenübersahen, als wir zur Erde kamen, war dieses das schwierigste“, gab Karellen zu. „Sie haben in andern Dingen unserer Weisheit vertraut — sicherlich können Sie uns auch hierin trauen.“
„Ich vertraue Ihnen“, sagte Stormgren, „aber Wainwright nicht und ebensowenig seine Anhänger. Können Sie diesen Menschen wirklich einen Vorwurf daraus machen, wenn sie Ihre Weigerung, sich ihnen zu zeigen, schlecht auslegen?“
Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann hörte Stormgren jenes leise Geräusch, das dadurch hervorgerufen sein konnte, daß der Oberkontrolleur seinen Körper ein wenig bewegte.
„Sie wissen, warum Wainwright und seinesgleichen mich fürchten, nicht wahr?“ fragte Karellen. Seine Stimme war jetzt dunkel wie eine große Orgel, die ihre Töne durch ein hohes Kirchenschiff rollen läßt. „Sie werden Männer wie ihn in allen Religionen der Welt finden. Diese Männer wissen, daß wir Vernunft und Wissenschaft vertreten, und so zuversichtlich sie in ihrem Glauben sein mögen, fürchten sie doch, daß wir ihre Götter stürzen werden, nicht unbedingt durch irgendeine vorbedachte Handlung, sondern auf raffinierte Art. Wissenschaft kann Religion zerstören, indem sie sie unbeachtet läßt, aber auch indem sie ihre Lehren widerlegt. Niemand hat, soviel mir bekannt ist, jemals das Nichtvorhandensein von Zeus oder Thor bewiesen, aber beide haben jetzt wenige Anhänger. Die Wainwrights fürchten ebenfalls, daß wir die Wahrheit über die Ursprünge ihrer Glaubenslehren kennen. Wie lange mögen wir, denken sie, die Menschheit beobachtet haben? Haben wir Mohammed beobachtet, als er seine Flucht antrat, oder Moses, als er den Juden ihre Gesetze gab? Kennen wir alles, was in den Geschichten, an die sie glauben, falsch ist?“
„Und kennen Sie es?“ flüsterte Stormgren halb zu sich selbst.
„Das, Rikki, ist die Furcht, die sie martert, obwohl sie das öffentlich niemals zugeben. Glauben Sie mir: Es bereitet uns kein Vergnügen, den Glauben der Menschen zu zerstören, aber es können nicht alle Religionen der Welt richtig sein, und das wissen diese Menschen. Früher oder später muß der Mensch die Wahrheit erfahren, aber diese Zeit ist noch nicht gekommen. Was unsere Heimlichtuerei betrifft, die, wie Sie ganz richtig sagen, unsere Probleme erschwert, so entzieht sich das meiner Kontrolle. Ich bedaure ebensosehr wie Sie, daß diese Geheimhaltung nötig ist, aber die Gründe dafür sind ausreichend. Ich will jedoch versuchen, von meinen — Vorgesetzten — eine Erklärung zu bekommen, die Sie wohl befriedigen und vielleicht die Freiheitsliga besänftigen wird. Können wir jetzt zur Tagesordnung zurückkehren?“
„Nun“, fragte van Ryberg besorgt, „haben Sie Glück gehabt?“
„Ich weiß nicht“, erwiderte Stormgren müde, während er die Aktenstücke auf seinen Schreibtisch warf und auf den Stuhl niedersank. „Karellen berät jetzt mit seinen Vorgesetzten, wer oder was das nun auch sein mag. Er will keine Versprechungen machen.“
„Hören Sie zu“, sagte Pieter unvermittelt, „mir ist ein Gedanke gekommen. Welchen Grund haben wir für unsere Annahme, daß irgend jemand hinter Karellen steht? Wenn nun alle Overlords, wie wir sie genannt haben, in diesen ihren Schiffen hier über der Erde sind? Sie können vielleicht sonst nirgendwo hin und verbergen uns diese Tatsache.“
„Es ist eine geistreiche Theorie“, sagte Stormgren lächelnd, „aber sie steht im Widerspruch zu dem wenigen, was ich über Karellens Hintergründe weiß oder zu wissen meine.“
„Und wieviel ist das?“
Nun, er bezeichnet seine Stellung hier oft als etwas Zeitweiliges, das ihn hindert, seine wirkliche Arbeit fortzusetzen, die, wie ich vermute, irgendeine Art Mathematik ist. Einmal habe ich Actons Ausspruch zitiert, daß Macht korrumpiert und daß unbeschränkte Macht unbeschränkt korrumpiert. Ich wollte sehen, wie er sich dazu verhielt. Da stieß er sein abgründiges Lachen aus und sagte: „Es besteht keine Gefahr, daß mir so etwas geschieht. Erstens einmal kann ich, je eher ich meine Arbeit hier beende, um so eher dorthin zurückkehren, wo ich hingehöre, eine ganze Menge Lichtjahre von hier. Und zweitens habe ich keine unumschränkte Macht, keineswegs. Ich bin einfach Oberkontrolleur.‹ Natürlich kann er mich irregeführt haben, dessen kann ich nie sicher sein.“
„Er ist unsterblich, nicht wahr?“
„Ja, nach unsern Maßstäben, obwohl es in der Zukunft irgend etwas gibt, was er zu fürchten scheint. Ich kann mir nicht vorstellen, was das sein mag. Und dies ist wirklich alles, was ich über ihn weiß.“
„Es ist nicht sehr aufschlußreich. Meine Theorie ist, daß seine kleine Flotte sich im Weltraum verirrt hat und nach einer neuen Heimat sucht. Wir sollen nicht wissen, wie wenig zahlreich er und seine Gefährten sind. Vielleicht sind all diese andern Schiffe automatisch, und es ist niemand in ihnen. Sie sind nur eine imponierende Fassade!“
„Sie haben zu viele Zukunftsromane gelesen“, sagte Stormgren.
Van Ryberg lachte etwas verlegen. „Die Invasion aus dem Weltraum‹ ist nicht ganz so verlaufen wie erwartet, nicht wahr? Meine Theorie würde wenigstens erklären, warum Karellen sich nie zeigt. Wir sollen nicht erfahren, daß es sonst keine Overlords gibt.“
Stormgren schüttelte in belustigtem Widerspruch den Kopf. „Ihre Erklärung ist wie gewöhnlich zu genial, um wahr zu sein. Obwohl wir ihr Vorhandensein nur mutmaßen können, muß eine große Zivilisation hinter dem Oberkontrolleur stehen, und zwar eine, die schon seit sehr langer Zeit über den Menschen Bescheid weiß. Karellen selbst muß uns seit Jahrhunderten studiert haben. Denken Sie zum Beispiel an seine Kenntnis der englischen Sprache! Er hat mich gelehrt, wie man es mit dem richtigen Tonfall spricht.“
„Haben Sie jemals etwas entdeckt, was er nicht weiß?“
„O ja, ziemlich häufig, aber nur Nebensächliches. Ich glaube, er hat ein geradezu vollkommenes Gedächtnis. Einige Dinge jedoch hat er sich nicht bemüht zu lernen. Zum Beispiel ist Englisch die einzige Sprache, die er beherrscht, obwohl er sich in den letzten Jahren eine ganze Menge Finnisch angeeignet hat, nur um mich zu necken. Und Finnisch lernt man nicht so im Handumdrehen. Er kann große Absätze aus unserem Heldenepos Kalewala zitieren, während ich zu meiner Schande gestehen muß, daß ich nur ein paar Zeilen kann. Er kennt die Biographien aller lebenden Staatsmänner, und zuweilen sind mir die Quellen, die er benutzt hat, bekannt. Seine Kenntnisse der Geschichte und Wissenschaft scheinen vollständig zu sein; Sie wissen, wieviel wir schon von ihm gelernt haben. Jedes einzelne Gebiet für sich genommen, glaube ich nicht, daß seine geistigen Gaben außerhalb der Reichweite menschlicher Leistungen liegen. Aber kein einzelner Mensch könnte all die Dinge zugleich tun, die er tut.“
„Das ist mehr oder weniger das, was ich auch schon festgestellt habe“, stimmte van Ryberg zu. „Wir können ewig um Karellen herumreden, aber schließlich kommen wir immer zu der gleichen Frage zurück: Warum, zum Teufel, erscheint er nicht? Bis er es tut, werde ich weiterhin Theorien aufstellen, und die Freiheitsliga wird weiter Unruhe stiften.“ Er sah mit einem rebellischen Blick zur Decke hinauf. „Ich hoffe, Herr Oberkontrolleur, daß irgendein Reporter in einer dunklen Nacht mit einer Rakete zu Ihrem Schiff hinauffliegt und mit einer Kamera durch die Hintertür eindringt. Das wäre eine Sache!“
Wenn Karellen zuhörte, gab er doch kein Zeichen. Aber das tat er natürlich nie.
Im ersten Jahr nach ihrer Ankunft hatten die Overlords den Gang des menschlichen Lebens weniger beeinflußt, als man hätte erwarten können. Ihr Schatten war überall, aber es war ein unaufdringlicher Schatten. Obwohl es wenige Großstädte auf der Erde gab, wo man nicht eines der Silberschiffe am Zenit glänzen sah, nahm man sie nach einer kleinen Weile als ebenso selbstverständlich hin wie die Sonne, Mond oder Wolken. Die meisten Menschen waren sich wahrscheinlich nur dunkel bewußt, daß das ständige Steigen ihres Lebensstandards den Overlords zu verdanken war. Wenn sie einmal darüber nachdachten, was selten geschah, erkannten sie, daß diese schweigenden Schiffe — zum erstenmal in der Geschichte — der ganzen Welt Frieden gebracht hatten, und sie waren gebührend dankbar dafür.