Als er eine halbe Drehung machte, sah er den Berg. Er lag nicht am Horizont, sondern dahinter, ein einziger, zerklüfteter Gipfel, der sich über den Rand der Welt erhob, und dessen untere Hänge verborgen waren, wie die Masse eines Eisbergs unter der Wasserlinie verborgen ist. Jan versuchte, seine Größe abzuschätzen, aber mit völligem Mißerfolg. Selbst auf einer Welt mit einer so geringen Schwerkraft wie dieser konnte man kaum glauben, daß es solche Berge geben konnte. Ob die Overlords wohl seine Hänge erstiegen und gleich Adlern um seine ungeheuren Felsen schwebten?
Und dann begann sich der Berg langsam zu verändern. Als Jan ihn erblickt hatte, war er von dunkel-, fast düsterroter Farbe gewesen, mit einigen schwachen Zeichen nahe dem Gipfel, die er nicht deutlich unterscheiden konnte. Er versuchte, sich auf sie zu konzentrieren, als er bemerkte, daß sie sich bewegten.
Zuerst traute er seinen Augen nicht. Dann zwang er sich, daran zu denken, daß all seine vorgefaßten Begriffe hier wertlos waren: Er durfte nicht zulassen, daß sein Geist irgendwelche Eindrücke verwarf, die seine Sinne in die geheime Kammer seines Gehirns trugen. Er durfte nicht versuchen, zu begreifen, er durfte nur beobachten. Das Verständnis würde später kommen oder überhaupt nicht.
Der Berg — er bezeichnete ihn noch immer als solchen, denn es gab kein anderes Wort dafür — schien lebendig zu sein. Er dachte an das ungeheuerliche Auge in der tiefen Grabkammer, aber nein, dies war unfaßlich. Es war nicht organisches Leben, was er hier beobachtete: Es war nicht einmal Materie, wie er sie kannte.
Das dunkle Rot erhellte sich zu einer grelleren Tönung. Strei fen von lebhaftem Gelb erschienen, so daß Jan für einen Augenblick das Gefühl hatte, einen Vulkan zu betrachten, aus dem sich Lavaströme auf das Land ergossen. Aber diese Ströme hier bewegten sich aufwärts, wie er an gelegentlichen Flecken und Änderungen erkennen konnte.
Jetzt erhob sich irgend etwas aus den roten Wolken am Fuß des Berges. Es war ein riesiger Ring, völlig waagerecht und völlig kreisrund, und er hatte die Farbe von allem, was Jan so weit hinter sich gelassen hatte, denn die Himmel der Erde hatten kein lieblicheres Blau gehabt. Nirgends in der Welt der Overlords hatte er solche Schattierungen gesehen, und seine Kehle schnürte sich zusammen, weil sie solche Sehnsucht und ein solches Einsamkeitsgefühl in ihm hervorriefen.
Der Ring dehnte sich aus, während er höher hinaufglitt. Jetzt stand er höher als der Berg, und die Jan zugekehrte Rundung näherte sich ihm schnell. Es mußte irgendein Wirbel sein, dachte Jan, ein Rauchring, der schon viele Kilometer breit war. Aber er zeigte keine Rotation, wie er sie erwartete, und schien gleich fest zu bleiben, obwohl sein Umfang sich vergrößerte.
Sein Schatten glitt vorbei, lange bevor der Ring selbst majestätisch über ihm schwebte und sich noch immer höher in den Raum erhob. Jan beobachtete ihn, bis er zu einem dünnen blauen Faden geworden war, den das Auge in der umgebenden Röte des Himmels kaum wahrzunehmen vermochte. Als er endlich verschwand, mußte er schon viele Kilometer breit gewesen sein. Und er war noch immer im Wachsen.
Er blickte zurück auf den Berg, der jetzt golden erschien und ohne alle Flecken war. Vielleicht war es Einbildung — Jan konnte jetzt fast alles glauben — aber er erschien höher und schmaler und schien sich zu drehen wie der Trichter eines Wirbelsturms. Erst jetzt erinnerte sich Jan, der noch immer wie betäubt und von seinen Verstandeskräften verlassen war, an seine Kamera. Er hob sie in die Augenhöhe und richtete sie auf jenes unmögliche, erschütternde Rätsel.
Vindarten trat schnell dazwischen. Mit unerbittlicher Festigkeit bedeckten seine großen Hände die Linse und zwangen Jan, die Kamera zu senken. Jan versuchte nicht, Widerstand zu leisten. Es wäre natürlich nutzlos gewesen, aber er empfand plötzlich eine tödliche Furcht vor jenem Etwas da draußen am Rande der Welt und wollte nichts mehr damit zu tun haben.
Auf all seinen Ausflügen hatte es nichts gegeben, was er nicht hatte fotografieren dürfen, und Vindarten gab keine Erklärungen. Statt dessen nahm er sich viel Zeit, Jan dazu zu bringen, in den kleinsten Einzelheiten das Gesehene zu beschreiben.
Da begriff Jan, daß Vindartens Augen etwas ganz anderes gesehen hatten, und jetzt ahnte er zum erstenmal, daß auch die Overlords ihre Herren und Meister hatten.
Er kehrte heim, und alles Staunen, alle Furcht und Geheimnisse lagen weit hinter ihm. Es war dasselbe Schiff, vermutete er, aber sicherlich nicht dieselbe Mannschaft. Wie lang auch ihr Leben sein mochte, es war kaum anzunehmen, daß die Overlords sich freiwillig all die Jahrzehnte, die eine Intersternenfahrt beanspruchte, von ihrer Heimat trennen würden.
Die Relativitäts-Zeitausdehnung wirkte natürlich beiderseitig. Die Overlords würden auf der Rundreise nur vier Monate altern, aber wenn sie zurückkehrten, wären ihre Freunde achtzig Jahre älter geworden.
Wenn Jan es gewünscht hätte, so hätte er zweifellos für den Rest seines Lebens hier bleiben können. Aber Vindarten hatte ihm gesagt, daß mehrere Jahre lang kein anderes Schiff zur Erde fahren würde, und hatte ihm geraten, diese Gelegenheit zu benützen. Vielleicht hatten die Overlords erkannt, daß sein Geist selbst in dieser verhältnismäßig kurzen Zeit fast am Ende seiner Möglichkeiten angelangt war. Oder er wäre vielleicht nur lästig geworden, und sie konnten nicht mehr Zeit an ihn verschwenden.
Das war jetzt bedeutungslos, denn die Erde lag vor ihm. Er hatte sie Hunderte von Malen so gesehen, aber immer durch das ferne, mechanische Augen der Fernsehkamera. Jetzt endlich war er selbst hier draußen im Weltraum, während sich der Schlußakt seines Traums abspielte und die Erde auf ihrer ewigen Bahn dort unten kreiste.
Die große, blaugrüne Scheibe war in ihrem ersten Vierteclass="underline" mehr als die Hälfte der sichtbaren Scheibe lag noch in Dunkelheit. Es waren wenige Wolken da, nur einige Streifen zogen in der Linie der Passatwinde entlang. Die arktische Kappe glitzerte und blinkte, wurde aber durch die blendenden Sonnenreflexe im nördlichen Pazifik weit überstrahlt.
Man hätte es für eine Wasserwelt halten können: Auf dieser Halbkugel war fast gar kein Land. Der einzige sichtbare Kontinent war Australien, ein dunkler Nebel in dem atmosphärischen Dunst am Rande des Planeten.
Das Schiff glitt in den großen Schattenkegel der Erde hinein: die leuchtende Sichel wurde kleiner, schrumpfte zu einem brennenden Feuerbogen zusammen und verschwand. Unten waren Dunkelheit und Nacht. Die Welt schlief.
In diesem Augenblick erfaßte Jan, was nicht stimmte. Dort unten war Land — aber wo waren die glänzenden Lichterketten, wo die glitzernden Diamanten, die die Städte der Menschen gewesen waren? Auf dieser ganzen, in Schatten gehüllten Halbkugel gab es keinen einzigen Lichtfunken, um die Nacht zu verscheuchen. Spurlos verschwunden waren die Millionen Kilowatt, die einstmals sorglos zu den Sternen emporgeschleudert worden waren. So wie er die Erde jetzt sah, mochte sie vor dem Kommen der Menschen gewesen sein.
Dies war nicht die Heimkehr, auf die er gehofft hatte. Hier konnte er nichts tun als beobachten, während die Furcht vor dem Unbekannten in ihm wuchs. Irgend etwas war geschehen, irgend etwas Unvorstellbares. Und doch senkte sich das Schiff zielsicher in einer langen Kurve, die es wieder über die von der Sonne beleuchtete Halbkugel führte.
Er sah nichts von der tatsächlichen Landung, denn das Bild der Erde verschwand plötzlich und machte dem sinnlosen Muster von Linien und Lichtern Platz. Als das Bild wieder klar war, befanden sie sich auf dem Boden. In der Ferne standen große Gebäude. Maschinen bewegten sich, und eine Gruppe von Overlords beobachtete sie.
Irgendwo hörte man das dumpfe Getöse der Luft, als das Schiff den Druck ausglich, dann das Geräusch der großen, sich öffnenden Türen. Er wartete nicht. Die schweigenden Riesen betrachteten ihn mit Nachsicht oder Gleichgültigkeit, als er aus dem Kontrollraum hinauseilte.