„Nun, eben geeignet“, sagte die Stimme. „Übrigens, da wir ziemlich viel Zeit zusammen verbringen werden, können Sie mich Joe nennen.“
„Trotz ihrer Nationalität“, gab Stormgren zurück „— Sie sind doch Pole, nicht wahr? — glaube ich, daß ich Ihren wirklichen Namen aussprechen könnte. Er wird nicht schwieriger sein als viele finnische Namen.“
Es entstand eine kleine Pause, und der Lichtschein flackerte einen Augenblick. „Das hätte ich erwarten müssen“, sagte Joe resigniert. „Sie müssen viel Übung in diesen Dingen haben.“
„Es ist ein nützliches Steckenpferd für einen Mann in meiner Stellung. Ich vermute, Sie sind in den Vereinigten Staaten aufgewachsen, verließen Polen aber nicht vor — “
„Das genügt“, sagte Joe energisch. „Da Sie mit dem Anziehen fertig sind.“
Die Tür öffnete sich, während Stormgren, der sich durch seinen kleinen Sieg ein wenig ermuntert fühlte, darauf zuschritt. Als er an Joe vorbeiging, fragte er sich, ob sein Wächter bewaffnet sei. Es war fast mit Sicherheit anzunehmen, und auf jeden Fall würde er Freunde in der Nähe haben.
Der Gang war von Öllampen matt beleuchtet, und zum erstenmal konnte Stormgren Joe deutlich sehen. Es war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, der sicherlich mehr als zwei Zentner wog. Alles an ihm war übergroß, von dem fleckigen Kampfanzug, der von irgendeiner bewaffneten Truppe herrühren mochte, bis zu dem auffallend großen Siegelring an der linken Hand. Ein Mann mit diesen Körpermaßen würde sich auch nicht scheuen, einen Revolver zu benutzen. Es würde, dachte Stormgren, nicht schwierig sein, ihn aufzuspüren, wenn er je wieder von hier fortkäme. Die Erkenntnis, daß auch Joe sich dieses Umstandes durchaus bewußt sein mußte, war etwas bedrückend.
Die Wände ringsum bestanden, obwohl sie hier und da mit Beton verkleidet waren, hauptsächlich aus kahlem Felsen. Stormgren begriff, daß er sich in einer verlassenen Mine befand, und er konnte sich wenige Gefängnisse vorstellen, die zweckmäßiger gewesen wären. Bisher hatte ihn die Tatsache seiner Entführung noch nicht sehr beunruhigt. Er hatte das Empfinden gehabt, daß es den Overlords mit ihren starken Hilfsmitteln bald gelingen würde, ihn, was auch immer geschehen mochte, aufzuspüren und zu retten. Jetzt war er dessen nicht mehr so sicher. Es waren schon mehrere Tage verstrichen, und nichts hatte sich ereignet. Es mußte selbst für Karellens Macht eine Grenze geben, und wenn Stormgren tatsächlich auf irgendeinem fernen Kontinent versteckt wäre, vermochte alle Wissenschaft der Overlords ihn nicht aufzuspüren.
Zwei andere Männer saßen an dem Tisch in dem kahlen, trübe beleuchteten Raum. Sie blickten interessiert und mit einem gewissen Respekt auf, als Stormgren eintrat. Einer von ihnen schob ihm einige Butterbrote zu, die Stormgren begierig ergriff. Obwohl er großen Hunger verspürte, hätte er gern etwas Appetitlicheres gegessen, aber ohne Zweifel hatten seine Wächter auch nichts Besseres bekommen.
Während er aß, warf er einen raschen Blick auf die drei Män ner am Tisch. Joe war bei weitem der Hervorragendste, und nicht nur in der Körpergröße. Die andern waren offenbar seine Gehilfen, nichtssagende Leute, deren Herkunft Stormgren feststellen würde, sobald er sie sprechen gehört hätte.
Etwas Wein war in nicht allzu sauberen Gläsern aufgetischt worden, und Stormgren spülte die letzten Brotbissen hinunter. Da er sich jetzt der Lage besser gewachsen fühlte, wandte er sich zu dem riesigen Polen. „Nun“, sagte er ruhig, „vielleicht erzählen Sie mir jetzt, was dies alles bedeutet und was Sie damit zu erreichen hoffen.“
Joe räusperte sich. „Ich möchte eine Sache klarstellen“, sagte er. „Dies hat nichts mit Wainwright zu tun. Er wird ebenso überrascht sein wie alle andern.“
Stormgren hatte dies halbwegs erwartet, obwohl er sich fragte, warum Joe seine Vermutungen bestätigte. Er hatte seit langer Zeit das Bestehen einer extremistischen Bewegung innerhalb der Freiheitsliga oder an ihren Flügeln geargwöhnt. „Es würde mich interessieren“, sagte er, „wie Sie es angestellt haben, mich zu entführen?“
Er hatte hierauf kaum eine Antwort erwartet und war etwas verwundert über die Bereitwilligkeit, ja, den Eifer des andern, zu antworten.
„Es war wie ein Hollywoodfilm“, sagte Joe munter. „Wir wußten nicht, ob Karellen Sie etwa bewachen ließe; deshalb trafen wir ziemlich weitgehende Vorsichtsmaßnahmen. Sie wurden mit Hilfe der Klimaanlage durch das Gas betäubt, dann trugen wir Sie hinaus zum Auto — das war keine Schwierigkeit. Ich möchte erwähnen, daß dies alles nicht von einem unserer Leute ausgeführt wurde. Wir engagierten — hm — Fachleute für diese Aufgabe. Vielleicht wird Karellen sie erwischen — das nehmen wir an — aber dadurch wird er nicht klüger werden. Als das Auto Ihr Haus verlassen hatte, fuhr es in einen langen Straßentunnel hinein, keine tausend Kilometer von New York. Es kam planmäßig am entgegengesetzten Ende wieder heraus, noch immer mit einem betäubten Mann besetzt, der dem Generalsekretär außerordentlich ähnlich war. Eine ganze Weile später fuhr ein großer Lastwagen voller Metallkisten nach der andern Richtung bis zu einem bestimmten Flugplatz, wo die Kisten als legale Fracht auf ein Transportflugzeug verladen wurden. Ich bin überzeugt, daß die Besitzer dieser Kisten entsetzt wären, wenn sie wüßten, wie wir uns ihrer bedient haben.
Unterdessen fuhr das Auto, das tatsächlich die Entführung unternommen hatte, weiter bis zur kanadischen Grenze. Vielleicht hat Karellen es jetzt schon geschnappt, das weiß ich nicht, es kümmert mich auch nicht. Wie Sie sehen werden — und ich hoffe, daß Sie meine Offenheit zu schätzen wissen — baute sich unser ganzer Plan auf einer bestimmten Tatsache auf. Wir sind überzeugt, daß Karellen alles sehen und hören kann, was auf der Oberfläche der Erde geschieht, aber nur wenn er Magie — nicht Wissenschaft — zu Hilfe nimmt, kann er in die Erde hineinsehen. Er wußte also nichts über die Fahrt durch den Tunnel, wenigstens nicht, bis es zu spät war. Natürlich war es für uns ein Wagnis, aber wir hatten noch ein paar andere Sicherheitsmaßnahmen getroffen, auf die ich jetzt nicht eingehen will. Vielleicht müssen wir sie später einmal anwenden, und es wäre schade, sie zu verraten.“
Joe hatte die ganze Geschichte mit so offenkundigem Behagen erzählt, daß Stormgren ein Lächeln kaum unterdrücken konnte. Und doch fühlte er sich sehr beunruhigt. Der Plan war genial, und es war durchaus möglich, daß Karellen getäuscht worden war. Stormgren wußte nicht einmal mit Sicherheit, daß der Overlord irgendeine Schutzaufsicht für ihn eingerichtet hatte. Auch Joe wußte das nicht. Vielleicht war er deshalb so offen gewesen — er wollte sehen, wie Stormgren reagierte. Nun, er würde versuchen, zuversichtlich zu erscheinen, einerlei, wie seine wirklichen Gefühle waren.
„Ihr müßt eine Gruppe von Narren sein“, sagte Stormgren verächtlich, „wenn ihr annehmt, daß ihr die Overlords so leicht überlisten könnt! Und was soll es überhaupt nützen?“
Joe bot ihm eine Zigarette an, die Stormgren ablehnte. Da zündete Joe sich selbst eine an und setzte sich auf den Tischrand. Sofort ertönte ein bedrohliches Knacken, und er sprang hastig herunter.
„Unsere Beweggründe“, begann er, „dürften sehr einleuchtend sein. Wir haben festgestellt, daß Verhandlungen zwecklos sind, deshalb müssen wir andere Maßnahmen ergreifen. Es hat schon früher Untergrundbewegungen gegeben, und selbst Karellen wird es bei all seiner Macht nicht leichtfallen, mit uns fertig zu werden. Wir gedenken für unsere Unabhängigkeit zu kämpfen. Mißverstehen Sie mich nicht. Es wird nichts Gewaltsames geschehen, zunächst wenigstens nicht, aber die Overlords müssen sich menschli cher Vermittler bedienen, und wir können diesen das Leben sehr ungemütlich machen.“
Angefangen bei mir vermutlich, dachte Stormgren. Er fragte sich, ob der andere ihm mehr als einen Bruchteil der ganzen Geschichte erzählt hätte. Glaubten sie wirklich, daß diese Gangstermethoden Karellen im geringsten beeinflussen würden? Andererseits stimmte es, daß eine gut organisierte Widerstandsbewegung das Leben sehr schwierig machen könnte. Denn Joe hatte die eine schwache Stelle in der Regierung der Overlords berührt: All ihre Befehle wurden von menschlichen Vermittlern durchgeführt. Wenn diese zu Ungehorsam gezwungen wurden, konnte das ganze System zusammenbrechen. Dies war jedoch nur eine schwache Möglichkeit, denn Stormgren nahm zuversichtlich an, daß Karellen bald irgendeine Lösung finden würde.