»Mein Gott«, seufzte Romulus. »Diese Geschichte macht einem wirklich angst. Aber ist sie auch wahr?«
»Wer weiß das schon? In gewissem Sinne ist alles wahr, woran wir glauben. Etwas Wahres ist sicher daran. Vielleicht ist die Bevölkerung dieses Dorfes den alten Praktiken der Totenbeschwörung verfallen, wodurch ihnen Erfahrungen von so großer Intensität zuteil werden, daß sie ihnen völlig echt erscheinen ...« Er brach ab, um dem Steuermann einige Anweisungen zu erteilen: »Mehr nach Steuerbord, langsam, ja, so ist es gut.«
»Wo liegt diese Insel Avalon?«
»Das weiß niemand. Irgendwo an der Westküste Britanniens vielleicht. So jedenfalls hörte ich einen alten Druiden sagen, der von der Insel Mona stammte. Andere sagen, sie läge weiter im Norden und sei der Ort, an dem sich die Helden nach ihrem Tod versammeln. Wie die Insel der Seligen, von der Hesiod spricht, weißt du noch? Vielleicht sollten wir in diesem Dorf in Armorica an Bord des Totenschiffs gehen, um ihr Geheimnis zu lüften ... Doch sind das alles nur Vermutungen und Spekulationen. Tatsache ist, mein Sohn, wir sind von vielen Geheimnissen umgeben.«
Romulus nickte langsam, als wolle er einer schwerwiegenden Behauptung zustimmen, dann zog er sich den Umhang über den Kopf und suchte Schutz unter Deck. Ambrosinus blieb allein zurück mit seinem Pfeil, um damit das Schiff durch das verschwommene Dunkel zu lenken, während seine Gefährten unaufhörlich weiterruderten, stumm vor Verwunderung in dieser schwebenden Atmosphäre ohne Zeit oder Raum, in der das Klatschen der Wellen gegen den Kiel die einzige Wirklichkeit darzustellen schien. Irgendwann fragte Aurelius: »Meinst du, daß wir ihn noch einmal sehen werden?«
Ambrosinus setzte sich neben ihn auf die Ruderbank: »Wulfila?« antwortete er. »Ja, natürlich. Bis ihn endlich einer zur Strecke bringt.«
»Volusianus hat uns geraten, überall sonsthin zu fahren, nur nicht nach Britannien. Es scheint ganz, als sei dieses Land ein wirkliches Schlangennest.«
»Ich glaube nicht, daß es in unserer Welt irgendwelche Orte gibt, die besser sind als andere. Wir gehen nach Britannien, weil dort etwas auf uns wartet.«
»Deine Prophezeiung. Oder etwa nicht?«
»Überrascht dich das?«
»Ich weiß es nicht. Du kennst sowohl Plinius als auch Varro, Ar-chimedes und Eratosthenes. Selbst Strabo und Tacitus hast du gelesen ...«
»Du auch, soweit ich sehe«, bemerkte Ambrosinus nicht ohne Überraschung.
»Du bist also ein Mann der Wissenschaft«, schloß Aurelius, als habe er ihm gar nicht zugehört.
»Ein Mann der Wissenschaft sollte aber nicht an Prophezeiungen glauben, die derart irrational sind. Richtig?«
»Nein, das ist es nicht.«
»War es vielleicht rational, was du getan hast? Und was ist an den vielen Dingen noch logisch, die du in den letzten Monaten erlebt hast?«
»In der Tat recht wenig.«
»Und weißt du, warum? Weil es noch eine andere Welt gibt, die über die, die wir kennen, weit hinausgeht. Die Welt der Träume, der Ungeheuer und der Chimären, die Welt der Phantasie und der Leidenschaften mit all ihren Geheimnissen. Das ist die Welt, von der wir in einigen Augenblicken unseres Lebens berührt werden, die uns zu sinnlosen Handlungen verleitet oder uns unter einem eiskalten Hauch erschauern läßt, der uns in der Nacht wie der Gesang einer im Schatten verborgenen Nachtigall erfaßt. Wir wissen auch nicht, wie weit diese Welt sich erstreckt, ob sie Grenzen hat oder unendlich ist. Befindet sie sich in oder außerhalb von uns, nimmt sie, um sich zu offenbaren, den Anschein des Realen an, oder verbirgt sie sich gänzlich dahinter. Prophezeiungen ähneln den Worten, die ein schlafender Mann im Traum spricht. Scheinbar haben sie keinen Sinn, doch kommen sie tatsächlich aus den verborgensten Abgründen der universellen Seele.«
»Ich dachte, du seiest ein Christ.«
»Macht das einen Unterschied? Auch du könntest das sein, was dein Herz manifestiert. Statt dessen bist du ein Heide.«
»Wenn das bedeutet, in Treue zu den Traditionen der Ahnen und dem Glauben der Väter zu stehen oder Gott in allen Dingen und alle Dinge in Gott zu sehen, wenn es bedeutet, bitter die einstige Größe zu beweinen, die nie mehr zurückkehren wird, nun gut, dann bin ich ein Heide.«
»Und gleiches gilt auch für mich. Siehst du diesen Mistelzweig hier um meinen Hals? Er kennzeichnet die Verbindung zu jener Welt, in die ich hineingeboren wurde - mit all ihrer uralten Weisheit. Ziehen wir vielleicht nicht andere Gewänder an, wenn wir von einem warmen in ein kaltes Land kommen? So steht es auch mit unserer Sicht der Welt. Religion ist die Farbe, die unsere Seele entsprechend dem Licht annimmt, dem sie ausgesetzt ist. Du hast mich im Licht der mediterranen Welt erlebt, aber vergiß nicht, im Dunkel der Wälder Britanniens werde ich ein anderer sein und dennoch derselbe. Es ist unvermeidlich, und so muß es sein. Weißt du noch, als wir über den Rhein fuhren und die Hymne an die Sonne angestimmt haben? Alle haben wir gesungen, sowohl Christen als auch Heiden, denn der Glanz der Sonne, die nach jeder Nacht wieder neu aufgeht, steht auch für das Antlitz Gottes und die Glorie Jesu Christi, der das Licht immer wieder in diese Welt trägt.«
Und so verbrachten sie die Nacht, indem sie von Zeit zu Zeit redeten und sich gegenseitig Mut zusprachen, dann wieder schweigend ruderten, bis plötzlich der Nebel sich lichtete und Wind aufkam. Demetrios setzte das Segel, während seine Gefährten, die von der nächtlichen Anstrengung völlig erschöpft waren, sich endlich ein wenig Ruhe gönnten. Kaum jedoch, daß die Morgenröte ihren Glanz ausbreitete, ertönte die Stimme von Ambrosinus: »Seht nur! Seht alle hin!«
Aurelius hob sein Haupt. Romulus und Livia eilten auf das Vorschiff, während Batiatus, Orosius und Demetrios die Taue losließen, mit denen das Segel gehalten wurde. Sie alle bewunderten den Anblick, der sich langsam vor ihren Augen enthüllte. In den ersten Strahlen der Morgensonne stieg aus dem Nebel ein Land der grünen Wiesen und weißen Klippen empor, umsäumt von dem blauem Himmel, dem Meer und der gurgelnden Gischt. Der Wind liebkoste das Land, und Millionen von Vögeln begrüßten es mit ihrem Ruf.
»Britannien!« rief Ambrosinus. »Mein Vaterland!« Er öffnete weit die Arme, als wolle er einen lieben Menschen an sich ziehen, nach dem er sich lange gesehnt hatte. Er weinte. Über sein Asketengesicht rannen ihm die Tränen, die seine Augen mit neuem Licht und Glanz erfüllten. Dann fiel er nieder auf die Knie. Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen und versenkte sich in ein Gebet, das ihn mit dem Geist seiner Heimat verschmolz, den ihm der Wind mit seinen verlorenen und nie vergessenen Gerüchen zutrug.
Schweigend, doch voller Anteilnahme, betrachteten ihn die anderen. Sie schreckten erst wieder auf, als der Bootskiel über den sauberen Kies des Strandes knirschte.
Nur Juba war über den britannischen Kanal transportiert worden, die anderen Pferde hatten sie Teutasius als Entgelt für die Überfahrt in Zahlung gegeben. Nun führte Aurelius ihn die schmale Planke hinab und streichelte ihn dabei beruhigend. Er betrachtete ihn, wie er an diesem herrlichen Tag, der wie ein vorgezogener Frühlingstag wirkte, wie die Flügel eines Raben im Licht der Sonne strahlend erglänzte. Dann stiegen auch die anderen aus dem Boot, als letzter Batiatus, der Romulus im Triumph auf seinen Schultern trug.
Sie schlugen den Weg nach Norden ein und stapften durch grüne Felder, die immer wieder von flächigen Schneeverwehungen unterbrochen waren, aus denen hier und da purpurfarbene Krokusse hervorlugten. Auf den Hecken, die rot von Beeren waren, hüpften die Rotkehlchen umher, schienen aber einzuhalten, um einen neugierigen Blick auf die kleine Schar zu werfen, die an ihnen vorüberging. Gelegentlich standen riesige Eichen inmitten großer Weideflächen, in deren kahlen Ästen goldfarbige Mistelbeeren leuchteten.