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»Siehst du?« sagte Ambrosinus zu seinem Schüler. »Das ist die Mistel, die heilige Pflanze unserer uralten Religion, von der angenommen wurde, daß sie vom Himmel herabgeregnet ist. Ebenso heilig ist uns die Eiche, von welcher der Name für die weisen Männer der keltischen Religion herrührt: die Druiden.«

»Ich weiß«, antwortete Romulus. »Der Name kommt von dem griechischen Wort drys, das >Eiche< bedeutet.«

Aurelius rief sie in die Wirklichkeit zurück. »Wir sollten uns rasch einige Pferde besorgen, zu Fuß sind wir viel zu leicht anzugreifen.«

»Sobald es möglich ist«, antwortete Ambrosinus. »Sobald es möglich ist.« Und wieder gingen sie weiter. Sie marschierten den ganzen Tag und kamen über Felder, an denen einige verstreute Bauernhöfe und mit riesigen Heustapeln bedeckte Holzhütten lagen. Die Dörfer bestanden aus kleinen Ansammlungen winziger Häuser, die sich alle dicht aneinander drängten. Je näher der Abend des kurzen Wintertages rückte, desto mehr Rauchwolken stiegen von den Dächern auf, und Romulus stellte sich vor, wie die Familien sich rings um die kärglich gedeckten Tische versammelten und im schwachen Licht einer Öllampe das Brot verzehrten, das sie sich gemeinsam erarbeitet hatten. Er beneidete sie um ihr einfaches und bescheidenes Leben, das vor der Gier machtausübender Männer geschützt war. Ja, er träumte sogar, dereinst selbst ein solches Leben zu führen.

Bevor die Nacht hereinbrach, nahm Ambrosinus Romulus an die Hand und ging nur mit ihm zu der Tür eines abgelegenen Hauses, das etwas größer und reicher schien als die anderen, die sie gesehen hatten. Neben dem Gebäude lag ein weitläufiges Gehege mit einer Herde Schafe darin, die gut in der Wolle standen, daneben ein weiteres Gatter, das ein paar Pferde umschloß. Ein kräftiger Mann, eingehüllt in einen Umhang aus grober Wolle, das Gesicht eingerahmt von einem schwarzen, mit silbergrauen Fäden durchzogenen Bart, kam an die Tür.

»Wir sind Wanderer«, sagte Ambrosinus. »Die übrigen warten hinter der Hecke dort. Wir kommen aus einem Land jenseits des Meeres und sind auf dem Weg in die Länder des Nordens, die ich vor vielen Jahren verlassen habe. Ich heiße Myrdin Emreis.«

»Wie viele seid ihr?« fragte der Mann.

»Insgesamt acht. Wir brauchen Pferde, wenn du uns welche verkaufen kannst.«

»Ich heiße Wilneyr«, sagte der Mann, »ich habe fünf Söhne, die alle sehr stark sind und mit Waffen gut umgehen können. Wenn ihr in Frieden kommt, werde ich euch wie Gäste aufnehmen, kommt ihr aber als Räuber, dann wisset, daß wir uns nicht wie die Fische ausnehmen lassen.«

»Wir kommen in Frieden, mein Freund, und im Namen Gottes, vor dessen Richterstuhl wir dereinst alle stehen werden. Der Not halber sind wir bewaffnet, aber wir stellen die Waffen vor der Tür ab, bevor wir uns unter dein Dach begeben.«

»Dann kommt herein. Wenn ihr über Nacht bleiben wollt, könnt ihr im Stall schlafen.«

»Ich danke dir«, antwortete Ambrosinus. »Du wirst es nicht bereuen.« Und er schickte Romulus los, ihre Gefährten zu holen.

Als Batiatus erschien, riß der Mann vor lauter Verwunderung die Augen auf und wich, von plötzlichem Schrecken ergriffen, einige Schritte zurück. Seine Söhne drängten sich dicht an seine Seite.

»Habt keine Angst«, sagte Ambrosinus. »Er ist nur ein schwarzer Mann. In seinem Land sind alle so schwarz wie er. Wenn dort ein Weißer hinkommt, ruft er das gleiche verblüffte Erstaunen hervor, wie ihr es jetzt verspürt. Doch ist er gutmütig und friedfertig, auch wenn er über unglaubliche Kräfte verfügt. Für sein Abendessen müssen wir das Doppelte zahlen, da er den Appetit von zwei Männern besitzt.«

Wilneyr bot ihnen einen Platz am Feuer an und gab ihnen Brot, Käse und Bier zum Mahl, was allen das Herz erwärmte.

»Für wen züchtest du deine Pferde?« fragte Ambrosinus. »Soweit ich gesehen habe, sind es Tiere, die kriegstauglich sind.«

»Das stimmt. Und es kommen auch immer mehr Nachfragen nach ihnen. In diesem Land gibt es keinen Frieden, nirgendwo, wohin ich auch gekommen bin. Deshalb fehlt niemals Brot auf meinem Tisch, ebensowenig wie Schaffleisch und Bier. Aber erzähl mir lieber von dir, du hast mir gesagt, du kämest in Frieden. Warum willst du dann aber Pferde kaufen und bist mit bewaffneten Männern unterwegs?«

»Das ist eine lange, vor allem sehr traurige Geschichte«, antwortete der Alte. »Eine ganze Nacht würde nicht ausreichen, um sie zu erzählen. Wenn du sie jedoch hören willst, werde ich dir soviel sagen, wie ich kann. Ich habe vor niemandem etwas zu verbergen: außer vor meinen Feinden, die uns verfolgen. Wie ich schon sagte, bin ich kein Fremdling. Ich stamme aus diesem Land, und zwar aus der Stadt Carvetia, und wurde von den Weisen des heiligen Hains von Gleva erzogen.«

»Das sah ich an deinem Schmuck um den Hals«, sagte Wilneyr, »und das war auch der Grund, warum ich dich eingelassen habe.«

»Ich könnte ihn gestohlen haben«, erwiderte Ambrosinus mit einem ironischen Lächeln.

»Das glaube ich nicht. Deine Person ebenso wie deine Worte und dein Blick geben mir klar zu verstehen, daß du dieses Symbol dir nicht widerrechtlich angeeignet hast. Erzähle also, wenn du nicht zu müde bist. Die Nacht ist lang, und wir haben nicht oft Gäste, die von so weit herkommen.« Während er sprach, blickte er noch einmal auf Batiatus, dessen viel zu dunkle Augen und zu dicken Lippen, die eingedrückte Nase, der Stiernacken und die zwischen den mächtigen Oberschenkeln verschränkten riesigen Hände ihn in höchstes Erstaunen versetzten.

Dann begann Ambrosinus zu erzählen: wie er vor vielen Jahren aus seiner Stadt und dem Hain aufgebrochen war, um den römischen Kaiser um Hilfe zu bitten, der ihm den Helden Germanus und General Paullinus zur Seite gestellt hatte, den letzten Verteidiger des Großen Walls. Er erzählte von den Irrfahrten und Beschwernissen, von glücklichen Tagen, aber auch endlosem Leid. Wilneyr und seine Söhne hörten ihm wie gebannt zu, es war spannender als jede Geschichte, die sie je von einem der Barden gehört hatten, die von Stadt zu Stadt und von Gehöft zu Gehöft zogen, um von den Abenteuern der britannischen Helden zu erzählen.

Doch schwieg Ambrosinus über Romulus' Identität und sein Schicksal, da die Zeit dafür noch nicht gekommen war. Als er geendet hatte, war es spät in der Nacht, und die Flammen des Herdfeuers verloschen langsam.

»Nun sag mir«, fragte nun Ambrosinus seinerseits, »wer teilt sich die Macht auf der Insel? Und wer von den Kriegsherren ist der stärkste und wird am meisten gefürchtet? Was gibt es Neues über die Städte, die einst so blühend und lebenskräftig waren, als ich dieses Land verließ?«

»Wir leben in einer Zeit wüster Tyrannei«, antwortete Wilneyr ernst. »Niemandem liegt das Wohl des Volkes am Herzen. Es herrscht das Gesetz des Stärkeren, und für den, der dabei unterliegt, gibt es kein Mitleid. Der berühmteste, aber auch schrecklichste der Tyrannen ist gewiß Wortigern. Einst hatten ihn die Städte darum gebeten, sie vor den Angriffen der nordischen Krieger zu beschützen. Er dagegen unterwarf sie sich und belegte sie mit schweren Tributzahlungen, die sie kaum aufbringen konnten. Und obwohl es in manchen dieser Städte noch den einstigen Ältestenrat gibt, hat ihnen Wortigern doch jede Macht aus den Händen genommen. De facto haben die Städte also ihre Freiheit gegen die Sicherheit eingetauscht, da sie heute hauptsächlich von Kaufleuten bewohnt werden, die den Frieden wollen: um Gewinne zu machen und sich am Warenaustausch und Handel zu bereichern. Doch je mehr Wortigern die Kraft seiner Jugend verlor, desto weniger konnte er noch die Aufgaben erfüllen, auf die seine Macht einst gegründet war. Deshalb hat er die Sachsenstämme um Hilfe gebeten, die auf dem Kontinent die Halbinsel Kymre bewohnen. Doch wie so oft war das Heilmittel schlimmer als die Krankheit, und die Unterdrückung verdoppelte sich, anstatt weniger zu werden. Nun haben die Sachsen nur noch eins im Sinn: so viele Reichtümer wie möglich anzuhäufen, die sie den heimischen Bürgern stehlen. Die Überfälle der Skoten und Pikten aus dem Norden haben damit aber längst nicht aufgehört. Und so kämpfen die Barbaren wie Hunde, die sich um einen Knochen streiten, um die spärlichen Reste all dessen, was einst ein wohlhabendes, lebenskräftiges Land war und jetzt nur noch ein Schatten seiner selbst ist. Nur draußen auf dem Land kann man noch überleben, wie du siehst, aber vielleicht nicht mehr lange.«