Niedergeschlagen suchte Aurelius die Augen von Ambrosinus. War dies das so lang ersehnte Land? Worin war es besser als das blutige Chaos, dem sie eben erst entflohen waren ? Doch weilte der Blick des Weisen anderswo, als sei er auf der Suche nach Bildern einer Zeit, die weit hinter ihm lag und in der er sein Land einst verlassen hatte. Es schien, als bereite er sich darauf vor, den Riß in der Zeit wieder zu flicken, der eine offene Wunde in seiner persönlichen Geschichte und der seines Volkes darstellte.
Einer von Wilncyrs Söhnen zeigte ihnen den Weg in den Stall, wo sie sich erschöpft neben den ruhig wiederkäuenden Ochsen auf ein Bett aus Heu niederlegten und sich dem Schlaf überließen. Die Hunde, die der Hausherr aus ihrem Zwinger gelassen hatte, bewachten sie: riesige Mastiffs, die mit eisernen Spitzen besetzte Halsbänder trugen und es gewohnt waren, sich mit Wölfen und vielleicht noch schlimmeren Raubtieren herumzuschlagen.
Sie erwachten im Morgengrauen. Nachdem sie die warme Milch, welche die Frau von Wilneyr gemolken hatte, getrunken hatten, machten sie sich zur Weiterreise bereit. Sie kauften einen Maulesel für Ambrosinus und sieben Pferde. Eines davon war etwas kleiner als die anderen, das andere ein riesiger Hengst, der aus Armorica stammte und die britannischen Stuten decken sollte. Als ihn Batiatus bestieg, wirkte er wie eines dieser kolossalen Reiterstandbilder aus Bronze, die einst die Foren und Triumphbögen der Hauptstadt der Welt zierten.
Wilneyr zählte das Geld: Es war alles, was Livia noch hatte. Das gute Geschäft, mit dem er den Tag begonnen hatte, ließ ihn äußerst zufrieden auf der Türschwelle seines Hauses zurück, von wo aus er ihrer Weiterreise zusah. Sie wirkten im ersten Licht dieses Morgens wie die Krieger aus alten Legenden, wobei der blasse Knabe, der ihnen auf seinem Fohlen vorausritt, wie ein junger Feldherr aussah und das Mädchen wie eine Nymphe des Waldes. Welchen Abenteuern ging diese kleine Schar wohl entgegen? Er kannte nicht einmal ihre Namen, und dennoch schien es ihm, als seien sie ihm schon lang vertraut. Er hob einen Arm zum Gruß, wofür sie sich vom Gipfel des Hügels aus bedankten, über den sie jetzt in langsamem Schritt wie dunkle Umrisse im perlfarbenen Licht des Morgens zogen.
Dieses an Gefahren so reiche Land barg für Ambrosinus keine Geheimnisse, als hätte er sich erst vor wenigen Tagen und nicht vor vielen langen Jahren daraus entfernt. Er war mit der Sprache, der Landschaft und dem Charakter seiner Bewohner vertraut, er wußte, wie man die Wälder durchstreifte, ohne sich in ihnen zu verlaufen oder gar in Bedrängnisse wie einen Hinterhalt zu geraten. Er kannte die Tiefe der Flüsse und die Länge von Tagen, Nächten und sogar Stunden. Aus den Farben des Himmels entnahm er, wann sich ein Sturm zusammenbraute oder das schöne Wetter wiederkam, aus den Stimmen der Vögel präzise Botschaften von Alarm oder Frieden, und auch die knotigen Stämme der Bäume sprachen zu ihm. Sie erzählten von schneereichen Wintern und fruchtbaren Frühlingszeiten, von ausgiebigen Regengüssen und Blitzen, die vom Himmel herabschössen. Nur ein einziges Mal mußten sie sich einer Bedrohung stellen und den Kampf mit einer Räuberbande auf sich nehmen, die einen Überfall plante. Doch die überwältigende Wirkung von Batiatus auf dem riesigen Hengst aus Armorica sowie die tödliche Kraft von Aurelius und Vatrenus ließ sie bald mit den Angreifern fertig werden. Livias Pfeile, Demetrios blitzartige Schnelligkeit und Orosius ruhige Kraft taten das übrige, um die Räuber in die Flucht zu schlagen, die sich seit langem nur aufs Plündern verstanden und nicht mehr wie Soldaten zu kämpfen vermochten.
So durchritt die kleine Karawane fast ein Drittel des Landes in wenig mehr als zwei Wochen, bis sie ihr Lager unweit einer Stadt namens Caerleon aufschlug.
»Ein seltsamer Name«, sagte Romulus, der sie aus der Ferne betrachtete und über die merkwürdige Mischung aus beeindruckenden antiken Bauten und ärmlichen Hütten verblüfft war.
»Das ist nur die örtliche Verballhornung von Castra Legionum«, erklärte Ambrosinus. »Hier hatten einst die Legionen des Südens ihr Lager aufgeschlagen. Das Gebäude, das du dort unten siehst, ist der Rest, der vom Amphitheater noch übrig ist.«
Auch Aurelius und die anderen betrachteten die Stadt. Es berührte sie seltsam, daß die Spuren Roms trotz ihres Verfalls und der beginnenden Auflösung noch so beeindruckend waren.
Ihr Ritt dauerte noch weitere zwei Wochen an, bis sie die ersten Anhöhen am Rande weitläufiger Wälder erreichten. Eines Abends, als sie im Lager am Feuer saßen, befand Aurelius, es sei nun die Zeit gekommen, um das Ziel ihres langen Marsches zu erfahren, die Zukunft, die sie in diesem von aller Welt so weit entfernten Gebiet erwartete.
»Wohin gehen wir, Meister?« fragte er unvermittelt. »Meinst du nicht, daß du es uns endlich sagen solltest?«
»Ja, Aurelius, du hast recht. Wir gehen nach Carvetia, von wo ich vor vielen Jahren mit dem Versprechen aufbrach, mit einem kaiserlichen Heer wieder zurückzukehren, um dieses Land von den nordischen Barbaren und von Wortigern zu befreien, dem Tyrannen, der es damals unterdrückte und es noch heute tut, wie wir erfahren haben. Auch wenn er jetzt alt und schwach ist. Machtgier ist eine sehr kraftvolle Medizin: Sie hält auch einen Sterbenden weiter am Leben.«
Sie sahen einander in größter Verwunderung an.
»Mit einer Armee wiederzukommen, hast du versprochen. Und wir sind alles, was du zurückbringst?« meinte Vatrenus und deutete dabei auf sich und seine Gefährten. »Fürchtest du nicht, daß sie uns mit einem unbändigen Lachen empfangen werden? Ich dachte, du führtest uns an einen ruhigen Ort, an dem wir in Frieden leben könnten. Das haben wir uns doch verdient, oder etwa nicht?«
»Wenn ich ehrlich bin«, fügte Demetrios hinzu, »habe auch ich etwas ähnliches erwartet, einen Ort außerhalb der geschäftigen Welt, vielleicht auf dem Lande, an dem man eine Familie gründen kann und das Schwert nur noch dazu benutzt, um Brot oder Käse zu schneiden.«
»Ja, solch ein Ort würde auch mir gefallen«, sagte Orosius. »Wir könnten ein kleines Dorf bauen und uns gelegentlich treffen, um bei einem gemeinsamen Mahl über die Mühen und Gefahren zu sprechen, die wir durchgestanden haben. Wäre das nicht schön?«
Auch Batiatus schien mit dieser Vorstellung einverstanden. »Mir ist aufgefallen, daß sie in dieser Gegend noch nie einen Schwarzen gesehen haben. Dennoch glaube ich, sie könnten sich an mich gewöhnen. Und vielleicht finde ich ein Mädchen, das mit mir leben möchte, was meint ihr?«
Ambrosinus hob die Hand, um die Gespräche abzuschneiden. »Im Norden steht noch eine Legion unter Waffen, die den Kaiser erwartet. Man nennt sie die Legion des Drachen. Ihr Banner zeigt einen silbernen Drachen mit purpurnem Schweif, der, wenn er vom Wind bewegt wird und sich aufbläht, ganz so wirkt, als sei er lebendig.«
»Du phantasierst«, antwortete Aurelius. »Die letzte Legion war die unsrige, und wir sind, wie du genau weißt, ihre einzigen Überlebenden.«
»Das stimmt nicht«, entgegnete Ambrosinus, »es gibt sie tatsächlich, und gegründet wurde sie von Germanus. Als er starb, nahm er meinem Volk das Versprechen ab, diese Legion stets unter Waffen zu halten, um die Freiheit des Landes bis zu meiner Rückkehr zu schützen. Ich bin sicher, daß sie dieses Versprechen, das sie einem Helden und Heiligen gaben, niemals gebrochen haben. Vielleicht mögen euch meine Worte unsinnig erscheinen, doch habe ich euch je hintergangen oder getäuscht, seitdem ihr mich kennt?«