»Ich kenne die alten keltischen Inschriften, die Runen der Schonen, ja selbst die lateinischen Epigraphe«, antwortete der Mann stolz.
Wulfila zog das Schwert aus der Scheide und legte es vor ihn hin. »Dann erkläre mir, was die Buchstaben bedeuten, die in die Schwertklinge eingraviert sind. Und wenn wir am Ende unserer Reise angekommen sind, werde ich dich für deine Dienste bezahlen und deiner Wege ziehen lassen.«
Verblüfft betrachtete der Mann zuerst die Klinge und dann den Barbaren.
»Was ist denn?« fragte Wulfila unruhig. »Ist es vielleicht ein Zauber? Sprich!«
»Sehr viel mehr«, antwortete der Mann, »sehr viel mehr. Die Inschrift sagt, daß dieses Schwert Julius Cäsar gehörte, dem ersten Eroberer Britanniens. Es wurde von den Chalybern geschmiedet, einem Volk an der Südostküste des Schwarzen Meeres, das sein Geheimnis, den unüberwindbaren Stahl herzustellen, niemals gelüftet hat.«
Wulfila nickte mit einem Grinsen. »In meinem Volk sagt man, wer die Waffe eines Eroberers ergreift, wird selbst zum Eroberer, darum ist das, was du mir eben gesagt hast, das beste Vorzeichen für mich. Führe mich nun nach Castra Vetera. Wenn wir erst angekommen sind, werde ich dir weiteres Geld geben, und dann bist du frei, überall hinzugehen, wohin du nur willst.«
Fast zwei Wochen lang waren sie unterwegs. Sie marschierten durch die Gebiete vieler kleiner Despoten, doch hielt die beträchtliche Anzahl der Krieger zu Pferde in Wulfilas Gefolge und der erschreckende Anblick ihres Heerführers selbst jeden davon ab, sich in übermäßige Schwierigkeiten zu stürzen. Nur einmal wagte es ein mächtiger Potentat namens Gwynwird, der mit einer ansehnlichen Schar Bewaffneter unterwegs war, sie in der Nähe von Eburacum aufzuhalten und sie daran zu hindern, die Brücke zu überqueren, die in seinem Gebiet lag. Verärgert über das geringschätzige Benehmen des Fremden mit dem Narbengesicht, forderte er von Wulfila Wegegeld und die Abgabe seiner Waffen, die er erst zurückbekäme, wenn er sein Gebiet wieder verließe. Wulfila brach in Gelächter aus und gab ihm zur Antwort, daß er seine Waffen nur bekomme, wenn er sie sich im Kampf erobere. Dann forderte er Gwynwird zum Duell. Eifrig auf seinen Ruf und sein Ansehen bedacht, nahm dieser die Herausforderung an, doch als er Wulfila das Schwert ziehen sah, dieses Schwert von so exquisiter Machart und todbringender Schönheit, wußte er sich bereits verloren. Beim ersten Hieb wurde sein Schild zerschlagen, beim zweiten zersprang ihm das Schwert, und kurz darauf rollte sein Kopf, die Augen noch immer weit aufgerissen von dem Ausdruck entsetzter Ungläubigkeit, zwischen die Beine seines Pferdes.
Nach altem keltischem Brauch ergaben sich die Krieger des besiegten Anführers von nun an dem Befehl des Siegers, so daß Wulfilas Schar zu einer kleinen Armee anschwoll. Und während sie weiterzogen, eilten ihnen die schauerlichsten Gerüchte über die Grausamkeit ihres Anführers und sein unbesiegbares Schwert voraus, bis sie eines Tages in der Mitte des Winters vor Castra Vetera standen.
Der bedrohlich düstere Festungsbau erhob sich auf einem Hügel, der von einem dichten Tannenwald bestanden war, und wurde von einem Doppelgraben und einer Mauer geschützt, die Hunderte von Bewaffneten bewachten. Aus seinem Inneren war das ständige Gekläff der Wachhunde zu hören, und als sich Wulfila mit seiner Schar näherte, flog ein Schwärm Krähen zum Himmel empor und erfüllte die Luft mit ihrem durchdringenden Krächzen. Tiefe Wolken bedeckten den Himmel, der die Festung in ein bleiernes Licht tauchte und sie dadurch, wenn überhaupt möglich, noch düsterer wirken ließ. Wulfila schickte seinen Dolmetscher voraus, der zu Fuß ging und unbewaffnet war.
»Mein Herr«, verkündete dieser, »wurde vom kaiserlichen Hof im italienischen Ravenna ausgesandt, um Wortigern seinen Respekt zu erweisen und ihm ein Bündnis anzutragen. Er führt Geschenke und das kaiserliche Siegel mit sich, das seine Person und Mission bestätigt.«
»Warte hier und rühr dich nicht von der Stelle«, antwortete die Wache. Gleich darauf tuschelte er mit einem seiner Vorgesetzten, der im Inneren der Festung verschwand. Lange Zeit verging, in der Wulfila ungeduldig im Sattel saß und nicht wußte, was er von alldem halten sollte. Endlich kehrte der Mann zurück und überbrachte die Antwort seines Herrn. Der Gesandte sollte zunächst die Geschenke und das Beglaubigungsschreiben vorlegen, erst dann werde man ihn empfangen. Unbewaffnet und ohne Gefolgschaft.
Schon war Wulfila drauf und dran, sein Pferd zu wenden und wieder davon zureiten, als ihm ein Gefühl sagte, daß er, falls er diese Festung beträte, seinem Ziel einen entscheidenden Schritt näher gekommen sei. Und die Vorstellung, es mit einem kranken, schwachen Herrscher zu tun zu haben, tat das übrige, sich im Vertrauen auf seine eigenen ungebrochenen Energien auf ein so riskantes Unternehmen einzulassen. Durch lange Erfahrung geprägt und vor dem Hintergrund einer von ständigen Unruhen beherrschten Welt, die sich nur der Kühnheit des Stärkeren unterwarf, wußte er, daß es nur wenigen Männern gelang, sich aus dem Nichts zu den höchsten Gipfeln der Macht zu erheben, wenn sie es verstanden, günstige Gelegenheiten beim Schöpfe zu packen. Und so war er einverstanden.
Unter den strengen Augen bewaffneter Wachtposten überquerte er den Innenhof, dem noch die ursprüngliche Anlage des römischen Feldlagers anzusehen war, das ringsum von Pferdeställen und Kasernen gesäumt war. Dann gelangte er zum Hauptgebäude: einem Wachturm aus quadratisch behauenen Felsblöcken mit Fenstern so klein wie Schießscharten; darüber lag ein Wehrgang, den ein hölzernes Dach bedeckte. Er stieg zwei Treppen empor und stand vor einer schmalen, eisenbeschlagenen Tür, die sich wenig später öffnete, ohne daß einer der Männer aus seiner Eskorte angeklopft hätte. Mit einem Zeichen forderten sie ihn auf einzutreten, dann schloß sich die Tür hinter ihm wieder.
Wortigern stand allein vor ihm. Wulfila war sehr verwundert, daß sich niemand sonst in dem großen kahlen Raum befand. Der Tyrann saß auf einem Thron und sah sehr erschöpft und mitgenommen aus. Seine langen weißen Haare reichten ihm an beiden Seiten des Halses bis zur Brust hinab, während sein Gesicht von der Maske bedeckt war. Wenn die goldenen Züge der Wahrheit entsprachen, mußte er früher ein ungewöhnlich ansehnlicher Mann gewesen sein.
Bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, hallte seine Stimme aus dem Innern ihres metallischen Gehäuses hervor. »Wer bist du? Warum hast du verlangt, mich zu sprechen?«
Er sprach das allgemein verständliche Latein, das auch für seinen Gesprächspartner leicht zu verstehen war.
»Mein Name ist Wulfila«, antwortete er, »gesandt vom kaiserlichen Hof zu Ravenna, den nun ein neuer Herrscher befehligt. Er ist ein tapferer Krieger namens Odoaker, der dir die Ehre erweist und mit dir einen Freundschaftsbund schließen möchte. Der eigentliche Kaiser ist ein unerfahrenes Kind, das nichts von der Kriegskunst versteht, ein Spielball in den Händen intriganter Höflinge. Er ist abgesetzt worden.«
»Und warum will dieser Odoaker mein Freund werden?«
»Weil er um deine Macht als Beherrscher Britanniens und deine Tapferkeit im Kampf weiß. Dazu gibt es noch einen anderen, sehr wichtigen Grund, der mit dem abgesetzten Kaiser zu tun hat.«
»Sprich«, sagte Wortigern, den jedes Wort anscheinend unsägliche Mühe kostete.
»Einige Deserteure haben sich mit seinem Erzieher, einem irrsinnigen alten Kelten, zusammengetan und den Knaben entführt. Da sie sich nun hierher auf deine Insel geflüchtet haben, wollte ich dich darüber in Kenntnis setzen, wie ungemein gefährlich sie sind.«
»Ich soll also einen alten Mann und einen Knaben fürchten, die von einer Handvoll Räuber begleitet werden?«
»Vielleicht jetzt noch nicht, aber bald könnten sie eine Bedrohung darstellen. Erinnere dich, Herr, an den alten Spruch: >Wehret den Anfängen.<«