»Principiis obsta...«, wiederholte die Metallmaske mechanisch. Dieser Mann mußte in seiner Jugend die Erziehung eines Römers genossen haben.
»In jedem Fall wird es dir nützen, einen mächtigen Verbündeten wie Odoaker zu haben, der über Tausende von Kriegern und ungeheure Reichtümer verfügt. Wenn du ihm hilfst, die Verbrecher einzufangen, kannst du für immer auf seine Unterstützung zählen. Ich weiß, daß die nordischen Stämme noch immer dein Reich angreifen und du damit zu einem schwierigen, kostspieligen Krieg gezwungen bist.«
»Du bist gut informiert«, antwortete Wortigern.
»Um dir zu dienen und auch meinem Herrn Odoaker.«
Wortigern stützte sich auf die Armlehnen seines Throns, um Kopf und Rücken gerade aufzurichten, und durch die Löcher dieser gleichmütigen Maske spürte Wulfila die Kraft seines Blicks. Er fühlte, daß er seine Verunstaltung betrachtete, und erglühte vor blindem Haß.
»Du hast von Gastgeschenken gesprochen ...«, hub Wortigern von neuem an.
»So ist es«, antwortete Wulfila.
»Ich will sie sehen.«
»Das erste siehst du, wenn du zum Fenster hinausschaust. Es sind die zweihundert Krieger, die ich mit mir führe und die ich bereit bin, in deine Dienste zu stellen. Sie sind hervorragende Kämpfer und durchaus imstande, für ihren Unterhalt zu sorgen. Das heißt, sie werden dich überhaupt nichts kosten. Ich selbst biete mich an, sie bei allen Unternehmungen zu führen, die du uns anvertraust. Doch das ist nur der Anfang. Wenn du später weitere Truppen brauchst, wird sie dir mein Herr Odoaker jederzeit schicken.«
»Er muß große Angst vor diesem Kind haben«, meinte Wortigern. Wulfila sagte nichts darauf, sondern blieb gegenüber dem Thron stehen, da er annahm, der alte Tyrann ginge zum Fenster, um einen Blick auf die Männer zu werfen. Doch Wortigern machte keinerlei Anstalten dazu.
»Und die anderen Geschenke?«
»Die anderen?« Einen Augenblick lang wußte Wulfila nicht, was er darauf antworten sollte, dann erhellte sich sein Blick: »Ich habe nur noch eines«, fuhr er fort, »doch handelt es sich dabei um ein so ungewöhnliches Objekt, das du es dir kaum vorstellen kannst, ein Objekt, für das die mächtigsten Männer der Erde all ihre Reichtü-mer hergäben, um es zu besitzen. Es ist ein überaus kostbarer Talisman, der einst Julius Cäsar gehörte, dem ersten Eroberer Britanniens. Wer ihn sein eigen nennt, ist dazu bestimmt, für immer über dieses Land zu herrschen, und sein Stern wird niemals sinken.«
Mit gespannter Aufmerksamkeit saß Wortigern so kerzengerade auf seinem Thron, daß man ihn für eine Statue hätte halten können, wäre da nicht dieses kaum wahrnehmbare Zucken in seinen verkrümmten Händen gewesen. Wulfila fühlte förmlich die grenzenlose Gier, die er mit seinen Worten entfacht hatte.
»Laß es mich sehen«, sagte der Alte, und seine Stimme klang zugleich ungeduldig und gebieterisch.
»Das Geschenk wird dir gehören, wenn du mir hilfst, unsere Feinde zu fangen. Gib mir die Erlaubnis, sie so zu bestrafen, wie sie es verdienen, und überlaß mir den Kopf des Jungen. Das ist der Preis für das Schwert.«
Es folgte ein langes Schweigen, dann nickte Wortigern langsam mit dem Kopf. »Ich bin einverstanden«, sagte er. »Und für dich hoffe ich, daß mich dein Geschenk nicht enttäuschen wird. Der Mann, der dich vor meinen Thron geführt hat, ist der Kommandant meiner sächsischen Truppen. Du wirst ihm das Aussehen der Gesuchten genau beschreiben, so daß er unsere Informanten, die ihre Augen und Ohren überall haben, benachrichtigen kann.«
Nach diesen Worten erschlaffte sein Körper, als sei alles Leben aus ihm gewichen, und der Kopf sank ihm auf die Schulter. Durch die goldenen Lippen der Maske war nur noch ein schwaches Röcheln zu hören. Wulfila nahm an, daß damit die Unterredung beendet sei. Er verabschiedete sich mit einer angedeuteten Verbeugung und ging zur Tür.
»Warte!« rief ihn die Stimme plötzlich zurück.
Er drehte sich zum Thron um.
»Rom ... hast du es jemals gesehen?«
»Ja«, antwortete Wulfila. »Und seine Schönheit ist unbeschreiblich. Dennoch werde ich dir sagen, was ich gesehen habe - Triumphbögen aus Marmor, so hoch wie Paläste, darauf bronzene Wagen, die von Rössern, gegossen aus dem gleichen Metall, gezogen werden. Und gelenkt werden sie von geflügelten Göttergestalten, die wie Wagen und Pferde mit Gold überzogen sind. Riesige Plätze mit Arkaden umstellt, die von Hunderten von Säulen getragen werden und aus einem einzigen Steinblock gehauen sind, eine jede so hoch wie dein Turm hier. Und alle leuchten in den herrlichsten Farben. Die zahllosen Tempel und Basiliken sind über und über mit Malereien und Mosaiken verziert. In den Brunnen gießen Fabelwesen aus Marmor oder Bronze endlos Wasser in so riesige Steinbecken, daß mühelos hundert Männer darin Platz finden könnten. Und außerdem steht dort ein Bauwerk aus Hunderten von aufeinandergestellten Bögen, in dem früher die Römer die Christen den Raubtieren zum Fraß vorwarfen. Sie bezeichnen es als Kolosseum, und es ist so groß, daß deine ganze Festung darin Platz findet.«
Er hielt inne, da aus der Maske ein klagendes Pfeifen und leidendes Röcheln klang, das er nicht einzuordnen vermochte: vielleicht der nie verwirklichte Traum ferner Jugendtage oder die unbändige Gier, die von der Vorstellung solch immenser Reichtümer angeregt wurde, vielleicht aber auch die quälende Gewißheit, daß jede Vision wahrer Größe in diesem grauenhaft verunstalteten Körper, zerfressen von Alter und Krankheit, auf immer gefangen war.
Wulfila eilte hinaus, schloß die Tür hinter sich und kehrte zu seinen Männern zurück. Er warf dem Dolmetscher eine Börse mit Geld zu und sagte: »Hier dein Lohn, wie ich es dir versprochen habe. Jetzt bist du frei zu gehen, wohin du willst, denn ich weiß alles, was ich wissen mußte.« Der Mann nahm das Geld, beugte hastig den Kopf, um seinen Dank zu bezeigen, dann spornte er sein Pferd und galoppierte davon, um so weit wie möglich von dieser trübsinnigen Stätte fortzukommen.
Von diesem Tag an wandelte sich Wulfila in den treuesten und grausamsten Schergen Wortigerns. Wo immer ein Aufruhr vermeldet wurde, erschien er an der Spitze seiner Krieger und säte blitzschnell und mit verheerender Macht Tod, Schrecken und Zerstörung. Niemand wagte überhaupt noch von Freiheit zu sprechen oder sich seinen Freunden anzuvertrauen, er schwieg selbst innerhalb der vier Wände seines Hauses bei seinen Familienangehörigen. Die Gunst, die der Barbar bei dem Tyrannen genoß, stieg ins Unermeßliche, je mehr Früchte aus seinen Beutezügen und Plünderungen er ihm zu Füßen legte.
Wulfila verkörperte alles, was Wortigern längst verloren hatte: unerschöpfliche Energie, kraftvolle Arme und ein blitzschneller Geist. Er schien die direkte Verlängerung seines Herrscherwillens zu sein, so daß er ihm nicht einmal mehr einen Befehl zu erteilen brauchte. Der Barbar sah die Wünsche des Tyrannen bereits voraus und führte sie aus, noch bevor ihr Echo in dem großen kahlen Saal wiederhallte. Und dennoch fürchtete Wortigern ihn - gerade wegen all dieser Fähigkeiten und der bösartigen Intelligenz, die aus Wulfilas eiskalten Augen funkelte. Er mißtraute der scheinbaren Unterwerfung dieses geheimnisvollen Kriegers, der übers Meer gekommen war, auch wenn er vorgab, sein hauptsächliches Bestreben hege allein darin, das Kind zu finden und dessen Kopf nach Ravenna zu bringen.
Um zu veranschaulichen, wie er Verrat oder auch nur den Gedanken an Verrat zu ahnden in der Lage war, ließ ihn Wortigern eines Tages bei der Hinrichtung eines Vasallen zusehen, der nichts weiter verbrochen hatte, als einen Teil der auf einem Raubzug zusammengerafften Beute für sich zu behalten. Es gab einen Hof, der an den Turm angrenzte und von einer hohen Steinmauer umgeben war. Hier waren die Mastiffs eingesperrt, jene furchteinflößenden Tiere, die häufig in der Schlacht gegen die Feinde eingesetzt wurden. Wortigerns liebster und einziger Zeitvertreib war es, sie zweimal täglich zu füttern, indem er ihnen Fleischstücke aus dem Fenster zuwarf, das sich hinter seinem Thron befand. Die Hinrichtung begann, als man dem Verurteilten die Kleider vorn Leibe riß. Dann wurde er an ein Seil gehängt und langsam in den Zwinger hinuntergelassen. Die Hunde, die zwei Tage gehungert hatten, stürzten sich auf ihn und fraßen ihn von den Füßen her bei lebendigem Leib auf, wobei er von den Folterknechten immer tiefer herabgelassen wurde. Die Schmerzensschreie dieses Unglücklichen sowie das ohrenbetäubende Gekläffe der Mastiffs, die vom Blutgeruch und von dem erbitterten Streit um ihr Mahl außer Rand und Band gerieten, hallten im Inneren des Turmes so markerschütternd und durchdringend wider, daß keiner, der auch nur ein wenig Menschlichkeit besaß, es aushalten konnte. Doch Wulfila zuckte nicht einmal mit der Wimper, vielmehr kostete er dieses brutale Schauspiel bis zum letzten aus, und hatte, als er seinen Blick auf Wortigern richtete, nur den Ausdruck beunruhigender Grausamkeit und höchster Erregung in seinen Augen.