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XXXV

Inzwischen hatte der Frühling begonnen, so daß nur noch der höchste Gipfel des Mons Badonicus, im örtlichen Dialekt Badon genannt, von Schnee bedeckt war. Während die Bauern wieder ihrer Feldarbeit nachgingen und die Hirten die Herden auf die Weide führten, sahen sie in der Ferne den im Wind flatternden purpurnen Drachen, dessen silbernes Haupt inzwischen gereinigt war und der auf dem höchsten Turm der Festung erglänzte: wie ein Signal, das ferne Erinnerungen an Tapferkeit und Ruhm in ihnen wachrief.

Während sich Ambrosinus auf den Dorfmärkten unter die Leute mischte und die Bauern auf dem Land in ihren Höfen aufsuchte, erkannte er die Erregung, die der Anblick des Drachen auslöste. Viele Männer erbebten bei diesen Erinnerungen an eine vergessene, unterdrückte Vergangenheit, auch wenn sie es kaum wagten, ihre Gedanken offen zum Ausdruck zu bringen. Einmal, als ein Hirte stehenblieb und das Banner der Legion betrachtete, gab Ambrosinus sich für einen Fremden aus und fragte: »Was ist das für ein Banner? Warum weht es denn dort auf der verlassenen Festungsanlage?«

Der Mann sah ihn mit einem sonderbaren Ausdruck an. »Du mußt von sehr weit her kommen«, sagte er, »wenn du dieses Banner nicht kennst. Jahrelang stand es als Zeichen für die Ehre und Freiheit dieses Landes und führte eine legendäre Armee in die Schlacht: die zwölfte Legion, die Legion des Drachen.«

»Ich habe davon gehört«, antwortete Ambrosinus. »Aber ich glaubte immer, daß es sich dabei nur um törichtes Gerede handelte, das man absichtlich ausstreute, um die Barbaren des Nordens von ihren Raubzügen abzuhalten.«

»Da irrst du«, antwortete der Flirte. »Diese Abteilung hat es wirklich gegeben, und auch dein Gegenüber gehörte ihr in seinen jungen Jahren an.«

»Was ist aus der Legion geworden? Wurde sie vernichtet oder zur Aufgabe gezwungen?«

»Nichts von beidem«, entgegnete der Hirte. »Sie wurde verraten, gerade als wir über den Wall hinaus einer Bande Skoten nachjagten, die Frauen aus einem unserer Dörfer geraubt hatten. Wir ließen einen mit uns verbündeten Stammesführer zurück, damit er den Durchgang am Großen Wall bewachte, durch den wir bei unserer Rückkehr wieder hereinkommen wollten. Doch als wir ihn erreicht hatten, von einer Horde wütender Feinde verfolgt, war der Durchgang versperrt, und unsere Verbündeten richteten ihre Waffen gegen uns. Wir waren eingekesselt! Viele von uns fielen im Kampf, doch manch einer konnte sich retten, weil plötzlich dichter Nebel aufstieg, der uns verbarg und uns half, durch ein verborgenes Tal in Sicherheit zu gelangen, das zwischen hohen Felswänden eingebettet lag. Wir beschlossen, uns einzeln durchzuschlagen und getrennt in unsere Häuser zurückzukehren. Der Verräter hieß übrigens Wortigern, der uns noch heute unterdrückt, uns mit Steuern und Raubzügen ausblutet und uns mit seiner Schreckensherrschaft knechtet. Seit damals leben wir in Schande und Dunkelheit. Wir gehen unserer Arbeit nach und versuchen zu vergessen, was wir einst waren. Doch jetzt tauchte wie durch ein Wunder dieses Banner aus dem Nichts wieder auf und erinnert uns daran, daß niemand, der je für die Freiheit kämpfte, als Sklave sterben darf.«

»Sag mir doch noch«, fuhr Ambrosinus fort, »wer es war, der die Legion aufgelöst hat? Wer hat euch geraten, zu euren Familien heimzukehren?«

»Nachdem unser Kommandant im Kampf gefallen war, schlug uns sein Stellvertreter Kustennin diese Möglichkeit vor, ein weiser, tapferer Mann, der für uns das Beste wollte. Seine Frau hatte ihm kurz zuvor ein Kind geboren, ein Mädchen so schön wie eine Rosenknospe, vielleicht erkannte er deshalb in diesem Augenblick, daß das Leben das kostbarste Gut auf Erden ist. Auch wir dachten an unsere Frauen, unsere Häuser und unsere Kinder. Doch war uns nicht klar, daß wir sie nur dann verteidigen konnten, wenn wir unter dem Banner vereint blieben ...«

Ambrosinus wollte die Unterredung gern noch weiterführen, doch der Mann, dem die Kehle wie zugeschnürt war, verstummte. Er warf einen langen Blick auf das Banner, das im Wind flatterte, dann entfernte er sich still.

Betroffen von diesen Enthüllungen, sprach Ambrosinus noch mehrere Male bei Kustennin vor und versuchte, ihn für seine Sache zu gewinnen. Doch vergebens. Unter diesen Voraussetzungen Wortigerns Macht herauszufordern, kam nach Kustennins Ansicht einem Selbstmord gleich. Der Anschein von Freiheit, über die sein Volk jetzt noch verfügte, schien im Vergleich zu den Risiken eines Aufstands sehr viel mehr Vorteile zu bieten. In diesen Zeiten mußte ein solcher Schritt unweigerlich ins Verhängnis führen, also weigerte sich Kustennin, die Neuankömmlinge seinerseits zu besuchen.

Carvetia war mittlerweile die einzige Stadt in Wortigerns Herrschaftsgebiet, in der noch ein Trugbild der Freiheit herrschte, und das nur, weil dem Tyrannen ihre Märkte am Herzen lagen, vor allem aber der Hafen, in dem seltene Güter umgeschlagen wurden. Besonders schätzte er diesen Ort wegen des Austauschs von Nachrichten, die er für den Erhalt und die Ausdehnung seiner Macht ebenso benötigte wie die Schwerter seiner Söldner.

Die Männer waren inzwischen dabei, die Verteidigungsanlagen im Inneren der Festung wieder instand zu setzen. Sie bauten die Galerien und Türme auf und errichteten zur Abwehr auf Wällen und Gräben spitze Pfähle, die im Feuer gehärtet worden waren. Batiatus nahm die Schmiede in Betrieb, und sein Hammer dröhnte unaufhörlich auf dem Amboß. Vatrenus, Demetrios und Orosius brachten die Soldatenunterkünfte und Ställe in Schuß und reparierten den Ofen und die Mühle, so daß Livia sie mit dem Duft und Geschmack von ofenfrischem Brot und frisch gemolkener Milch überraschen konnte. Nur Aurelius' Stimmung schien sich nach der ersten Begeisterung jeden Tag mehr zu verdüstern. Bis an die Zähne bewaffnet, verbrachte er lange Stunden der Nacht auf dem Wall und spähte in Erwartung eines Feindes in die Dunkelheit hinaus. Eines Feindes, der nie kam, vor dem er sich allerdings schon jetzt verloren und ohnmächtig fühlte, wie ein Gespenst, das oftmals sogar seine eigenen Gesichtszüge annahm, die Züge eines Feiglings, oder, noch schlimmer, die eines Verräters. Wieder befand er sich auf den Bollwerken einer kleinen Zitadelle, deren Verteidigung er aufbaute. Wann würde sich dieser Belagerungsring zuziehen und wann die Horden zu Pferde am Horizont erscheinen? Wann würde am blauen Himmel die Stunde der Wahrheit ertönen und wer dieses Mal dem Feind die Tore öffnen? Wer war es, der dieses Mal den Wolf in den Schafstall führte?

Ambrosinus, der diese Gedanken erahnte, spürte Aurelius' Schmerz, der so mächtig war, daß nicht einmal Livias Liebe ihn lindern konnte. Doch war er nicht länger gewillt, dabei zuzusehen, sondern machte sich bereit einzuschreiten, um dem Schicksal, das sich bisher als so höhnisch und flüchtig erwiesen hatte, eine neue Richtung aufzuzwingen. Während er überlegte, wie er das am besten anstellen sollte, erschien Kustennin auf dem Rücken seines Schimmels. Er brachte schlechte Neuigkeiten. Wortigern hatte befohlen, daß der Senat bis zum Ende des Monats aufgelöst werden und der Magistrat zurücktreten müsse, da eine Garnison Söldner vom Kontinent, die als sehr grausam bezeichnet wurden, sich innerhalb der Stadtmauern aufhielte.