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»Wir brauchen eure Hilfe«, sagte Ambrosinus. »Jedwede Auskunft, die ihr mir geben könnt, kann wertvoll, vielleicht sogar entscheidend sein. Es steht das Leben des Kaisers auf dem Spiel.«

»Wir tun, was wir können«, erwiderte das Mädchen, »aber wir können ihre Sprache nicht und verstehen nicht, was sie sagen.«

»Könntet ihr Botschaften überbringen?«

»Sie durchsuchen uns«, antwortete das Mädchen, leicht errötend, »aber wir können Bericht erstatten, wenn ihr das wollt. Vorausgesetzt, sie kommen uns nicht nach. Im Palast herrscht gegenüber jedem, der lateinischer Herkunft ist, großer Argwohn und echte Feindseligkeit.«

»Ich verstehe. Was ich wissen möchte ist, ob heute nacht ein römischer Soldat gefaßt wurde, ein Mann um die Fünfundvierzig, rüstig, dunkle Haare, an den Schläfen etwas graumeliert, pechschwarze Augen. Er ist an der linken Schulter verwundet.«

Die Mädchen tauschten fragende Blicke aus und sagten, nein, sie hätten niemanden gesehen, der dieser Beschreibung entspreche.

»Wenn ihr ihn sehen solltet, tot oder lebendig, so sagt es mir, ich bitte euch, so schnell wie möglich. Ein letztes: Wer hat euch geschickt?«

»Der Lehrer des Palastes«, entgegnete das ältere Mädchen. »Der edle Antemius.«

Ambrosinus nickte. Antemius war ein betagter Beamter und dem Kaiser, unabhängig von der jeweiligen Person, immer treu und bedingungslos ergeben gewesen. Offensichtlich erschien es ihm richtig, auch Romulus zu dienen, solange er keinen Nachfolger hatte.

Die Mädchen gingen hinaus, und ihr leichter Schritt wurde bald übertönt von dem schwereren der Wachen, die sie eskortierten. Romulus verkroch sich wieder in eine Ecke des Zimmers, verschloß sich in ein hartnäckiges Schweigen und weigerte sich, auf die wiederholten Aufforderungen seines Lehrers zu einem Gespräch einzugehen. Es gelang ihm nicht, die Kraft zu finden, sich wieder aus dem Abgrund herauszukämpfen, in den er gestürzt war. Ja, nach seinem starren und entsetzten Blick zu urteilen, vergrub er sich sogar immer tiefer in diesen Abgrund. Hin und wieder glänzte in seinen regungslosen Augen eine innere Erschütterung auf, und dann kullerten ihm die Tränen über die Wangen und auf sein Gewand.

So verging die Zeit. Es mußte schon bald Mittag sein, als die Tür sich erneut öffnete und der Mann, an den sich Ambrosinus in der Nacht zuvor gewandt hatte, auf der Schwelle erschien und zu Romulus sagte: »Jetzt kannst du sie sehen, wenn du willst.« Der Junge rappelte sich sofort aus seiner Benommenheit auf und folgte ihm, ohne auf seinen Lehrer zu warten, der sich schweigend der kleinen Prozession anschloß. Er hatte bis zu diesem Augenblick nichts gesagt, weil er wußte, daß es keine Worte gab, die in diesen Abgrund der Finsternis einen Lichtstrahl werfen konnten, und weil er überzeugt war, daß die jungen Menschen letzten Endes von der Natur geschützt wurden, der einzigen Macht, die imstande war, derart schmerzende Wunden zu heilen.

Sie gingen durch den Palast in Richtung Südflügel bis zu den nunmehr verlassenen Unterkünften der Palastwachen. Hier stiegen sie die Treppen hinunter, und Ambrosinus begriff, daß sie sich auf dem Weg zur kaiserlichen Basilika befanden, an der er kurz zuvor über die Emporen gehend vorbeigekommen war. Sie durchquerten das Schiff und stiegen in eine Krypta hinunter, die zum Teil vom sumpfigen Wasser der Lagune überschwemmt war. Der Hauptaltar und der kleine Chorraum ragten aus dem Wasser wie eine kleine Insel, die über einen aus Ziegeln erbauten Laufsteg mit dem Pflaster draußen verbunden war. Wer ihn benutzte, überquerte die Oberfläche des Wassers, unter der ein altes Mosaik glänzte, welches den Tanz der Jahreszeiten darstellte. Auf dem Marmor des Altars lag Flavia Serenas Leichnam. Er war weiß wie Wachs, gehüllt in eine Decke aus weißer Wolle, die auf beiden Seiten herabfiel. Ihre Haare waren wohlgeordnet und ihr Gesicht sauber gewaschen und leicht geschminkt. Irgendeine Magd aus dem Palast mußte sich der Leiche angenommen und sie so gut hergerichtet haben, wie dies möglich war.

Romulus trat vorsichtig an sie heran und betrachtete sie eingehend - so, als könnte sich diese kalte sterbliche Hülle wie durch ein Wunder unter der Wärme seines Blicks wiederbeleben. Dann füllten sich seine Augen mit Tränen; er legte die Stirn auf den eiskalten Marmor und begann heftig zu schluchzen. Ambrosinus, der sich ihm genähert hatte, aber nicht wagte, ihn zu berühren, ließ ihm Zeit, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Endlich sah er, wie er sich das Gesicht trocknete, und hörte, daß er leise etwas vor sich hin murmelte, was er aber nicht verstehen konnte. Da hob Romulus den Kopf und wandte sich zu den Umstehenden, den barbarischen Soldaten in Wulfilas Diensten, und sein Erzieher war beeindruckt von der Festigkeit seines Blickes, als er sagte: »Dafür werdet ihr bezahlen. Ihr werdet alle bezahlen. Gott verfluche euch, ihr Rudel tollwütiger Hunde.«

Keiner von ihnen verstand diese letzten Worte des Knaben, die er in einem ebenso feierlichen und altertümlichen Latein hervorgebracht hatte wie zuvor seine Verwünschung, und sein Erzieher war erleichtert. Doch oben, von einem kleinen Vorsprung der Apsis aus, die mit den Emporen verbunden war, hatte Odoaker, von seinen Wachen und einem seiner Diener flankiert, die Szene beobachtet. »Was hat er gesagt?« fragte er den letzteren.

»Er hat euch alle verflucht«, antwortete der Diener kurz und bündig. Odoaker verzog das Gesicht zu einer Grimasse verächtlichen Mitleids, aber Wulfila, der halb versteckt im Schatten hinter ihm stand, schien der lebendige Beweis für diesen Fluch zu sein. Der breite Schmiß, den ihm Aurelius' Schwert beigebracht hatte, entstellte sein Antlitz, und die Stiche der Naht, die dem Chirurg des Palastes zu verdanken war, ließen das aufgedunsene Gesicht mit den geschwollenen, zu einer grotesken Fratze verzerrten Lippen noch abstoßender wirken.

Odoaker wandte sich an die neben ihm stehenden Wachen: »Führt den Jungen zurück in sein Zimmer und bringt mir den Alten! Er muß über den Überfall heute nacht Bescheid wissen.« Er warf einen letzten Blick auf Flavia Serenas Leichnam, und niemand konnte in dieser Dunkelheit den Ausdruck tiefen Schmerzes sehen, der einen Moment lang in seinem Blick lag. Dann drehte er sich um und ging, gefolgt von Wulfila, in Richtung der kaiserlichen Gemächer davon. Einer der Wächter stieg in die Krypta hinunter und murmelte dem Kommandanten etwas zu; gleich darauf wurde Romulus von seinem Lehrer getrennt, der von dem Hinzugekommenen abgeführt wurde. Der Knabe rief ihm nach: »Magister!« Und dann, als Ambrosinus sich umwandte: »Laß mich nicht allein!«

»Keine Angst. Wir werden uns bald wiedersehen. Verzage nicht, niemand darf dich mehr weinen sehen, niemand, unter gar keinen Umständen. Du warst Zeuge, wie deine beiden Eltern umgebracht wurden, im ganzen Leben kann es keinen größeren Schmerz geben als diesen. Jetzt kannst du nur noch aus dem tiefen Abgrund herausklettern, in den du gestürzt bist, und ich werde ich dir dabei helfen.« Und damit ging er hinter seinen Wächtern her.

Odoaker erwartete ihn im Gemach des Kaisers, in dem Raum, der das Arbeitszimmer des vorhergehenden Kaisers, Julius Nepos, und von Flavius Orestes gewesen war.

»Wer war der Mann, der heute nacht versucht hat, die Gefangenen zu befreien?« fragte er ihn ohne Umschweife. Ambrosinus ließ seinen Blick an den langen Regalen voller Rollen und Büchern entlang wandern, die ihn daran erinnerten, daß er selbst in den wenigen Monaten, die er als Mitglied der kaiserlichen Familie in dieser prachtvollen Residenz verbracht hatte, in so manchen von ihnen gelesen hatte, und dies irritierte seinen Gesprächspartner so sehr, daß er losbrüllte: »Schau mich an, wenn ich mit dir rede! Und antworte auf die Fragen, die ich dir stelle!«