»Vielleicht hast du recht, Myrdin«, sagte Kustennin. »Die wahre Freiheit muß mit Schweiß und Blut erobert werden, doch leider ist es dafür zu spät.«
»Das stimmt nicht«, erwiderte Ambrosinus. »Morgen, falls du der Sitzung des Senats beiwohnst, wirst du mehr darüber erfahren.«
Kustennin schüttelte nur das Haupt, als ergäben diese Worte für ihn keinen Sinn, dann bestieg er sein Pferd und galoppierte durch das verlassene Tal davon.
Tags darauf, als es noch dunkel war, bat Ambrosinus Romulus, ihn zu begleiten und machte sich auf den Weg zur Stadt.
»Wohin gehst du?« fragte Aurelius.
»Nach Carvetia«, bekam er zur Antwort, »in den Senat, vielleicht aber auch auf den Marktplatz. Ich will das Volk zur Versammlung aufrufen, wenn es notwendig sein sollte.«
»Ich komme mit dir.«
»Nein, dein Platz ist hier, an der Spitze deiner Männer. Hab Vertrauen«, sagte er und machte sich mit seinem Pilgerstab auf den Weg, der ihn durch Wiesen führte und am Ufer des Lago della Virgo entlang in Richtung Stadt.
Carvetia wirkte mit seiner Sprache, seinen Sitten und Gebräuchen, aber auch seinen Straßen und Gebäuden noch immer wie eine römische Stadt. Auf den Stadtmauern, die aus behauenen Steinquadern gefertigt waren, patrouillierten die Posten und wachten über die Einwohner. Kurz darauf traf Ambrosinus vor dem Senatsgebäude ein und beobachtete, wie die Volksvertreter nahten, um an der Ratssitzung teilzunehmen. Andere Bürger folgten und drängten sich ins Atrium, bevor die Türen geschlossen wurden.
Einer der Redner erhob sich, um eine Ansprache zu halten, ein würdevoller Mann, der durch schlichte Kleidung und ehrliche Gesichtszüge auffiel. Er mußte Respekt und Anerkennung genießen, denn als er mit seiner Rede begann, herrschte sofort Stille.
»Senat und Volk von Carvetia!« begann er. »Unsere Lage ist unerträglich geworden. Der Tyrann hat ausländische Söldner angeheuert, die unerhört grausam sind. Und er tat dies zum Schutz der Bevölkerung in unserer Stadt, die sich doch immer selbständig verwalten konnte. Zur gleichen Zeit schickt er sich an, auch den letzten Anschein der Versammlungsfreiheit von uns Bürgern Britanniens zu vernichten: unseren Senat!« In den Sitzreihen und zwischen den Menschen, die sich im Atrium drängten, wurde bestürztes Stimmengewirr laut.
»Was bleibt uns zu tun übrig?« fuhr der Redner fort. »Unser Haupt beugen, wie wir es bisher getan haben? Noch mehr Mißbrauch und Schmach erdulden und zulassen, daß unsere Würde und Rechte noch weiter mit Füßen getreten werden? Unsere Häuser entehrt und unsere Frauen und Töchter unseren Armen entrissen werden?«
»Leider haben wir keine andere Wahl«, sagte ein anderer. »Sich Wortigern zu widersetzen, käme einem Selbstmord gleich.«
»Das stimmt«, sagte ein dritter. »Wir müssen alles tun, um seinen Zorn nicht heraufzubeschwören. Fr würde uns einfach hinwegfegen. Wenn wir uns ihm weiterhin unterwerfen, können wir zumindest darauf hoffen, einige unserer Vergünstigungen zu behalten.«
Da trat Ambrosinus vor, der Romulus an der Hand hielt, und rief: »Ich bitte ums Wort, edle Senatoren!«
»Wer bist du?« fragte der Präsident der Versammlung. »Warum störst du diese Ratssitzung?«
Ambrosinus enthüllte sein Haupt und schritt in die Mitte der Aula vor. Noch immer hielt er Romulus an der Hand, obwohl er die Scheu des Jungen bei dieser Zurschaustellung durchaus bemerkte.
»Mein Name ist Myrdin Emreis«, begann er, »Druide des heiligen Hains von Gleva und römischer Bürger" mit dem Namen Mendius Ambrosinus, solange in diesem Lande römisches Gesetz herrschte. Vor vielen Jahren habt ihr mich nach Rom mit einem Auftrag entsandt. Ich sollte den Kaiser um Hilfe anflehen und mit einem Heer zurückkehren, um Ordnung und Wohlstand in diesem gepeinigten Land wiederherzustellen, wie sie einst herrschten in den ruhmreichen Zeiten des Helden und heiligen Germanus, der von Aetius, dem letzten und tapfersten Soldaten Roms, hierher entsandt worden war.«
Dieser unerwartete Auftritt löste großes Erstaunen aus und hüllte den Saal in Schweigen, doch sogleich fuhr Ambrosinus fort: »Diese Aufgabe zu erfüllen, war unmöglich. Auf der Reise verlor ich meine Gefährten, die ein Opfer von Kälte und Hunger, von Krankheiten und Übergriffen wurden. Wie durch ein Wunder konnte ich mich retten. Ich erreichte den Hof des kaiserlichen Palastes von Ravenna und verbrachte dort endlose Tage als Bittsteller: vergebens. Ich wurde nicht einmal zum Kaiser vorgelassen, der, unfähig und schwach, vollständig unter dem Joch seiner barbarischen Milizen stand. Jetzt bin ich zurückgekehrt. Spät, das ist wahr, aber nicht allein, vor allem nicht mit leeren Händen! Ihr alle kennt, wie ich glaube, das Orakel, das die Ankunft eines jungen Mannes von reinem Herzen verkündet. Er wird das Schwert der Gerechtigkeit mit sich führen und diesem Land die verlorene Freiheit zurückbringen. Nun gut«, rief er, »edle Senatoren, diesen jungen Mann habe ich euch gebracht!« Und er ließ den Knaben vortreten und bot ihn - allein -ihren Blicken dar.
»Dies ist Romulus Augustus Cäsar, der letzte Kaiser der Römer!«
Seine Worte lösten ein tiefes, verwundertes Schweigen aus, doch nur kurz, dann folgte aufgeregtes Stimmengewirr, das laut und lauter anschwoll, bis es zu einem diffusen Grollen wurde. Manche schienen betroffen von diesen Behauptungen, andere dagegen lachten oder machten sich über den unerwarteten Redner lustig.
»Wo ist dieses Wunderschwert?« fragte ein Senator, der mit seiner Stimme den Lärm übertönte.
»Und wo sind die Legionen des neuen Cäsaren?« fragte ein anderer. »Weißt du, wie viele Krieger Wortigern hat? Hast du überhaupt eine Ahnung?«
Betroffen von diesen Worten zögerte Ambrosinus einen Moment, dann antwortete er: »Wir sind dabei, die zwölfte Legion, die Legion des Drachen, wieder neu zu bilden. Und wenn sich der Kaiser seinen Soldaten präsentiert, werden sie, dessen bin ich sicher, die Kraft und den Willen zum Kampf wiedergewinnen und sich der Tyrannei widersetzen.«
Ein tosendes Lachen hallte durch die Aula, dann erhob sich ein weiterer Senator. »Du bist wirklich eine ganze Weile weggewesen, Myrdin«, herrschte er ihn an, wobei er ihn bei seinem keltischen Namen nannte. »Diese Legion hat sich vor vielen Jahren aufgelöst, und niemand käme auch nur im Traum auf die Idee, je wieder eine Waffe in die Hand zu nehmen.«
Die anderen Senatoren fielen gleichfalls in das Gelächter ein. Romulus fühlte, wie ihn diese Woge aus Spott und Hohn überschwemmte, ein weiteres Mal, doch er bewegte sich nicht. Er schlug seine Hände vors Gesicht und stand reglos und still in der Mitte der Aula. Bei diesem Anblick wurde der Lärm langsam schwächer und verwandelte sich in ein Stimmengewirr aus Verlegenheit und plötzlicher Scham. Ambrosinus trat vor zu Romulus, legte ihm die Hand auf die Schulter und begann, flammend vor Empörung, erneut zu sprechen: »Lacht nur, edle Senatoren, nun macht schon, macht euch lustig über dieses Kind. Ihm fehlt jede Möglichkeit, sich zu verteidigen, und er kann eure törichten Beleidigungen auch nicht erwidern.
Mit eigenen Augen mußte er mit ansehen, wie seine Eltern niedergemetzelt wurden. Wie ein Tier ist er von allen Herrschern dieser Erde ohne Unterlaß und ohne Erbarmen gehetzt worden. Seit Kindesbeinen an den kaiserlichen Prunk gewohnt, mußte er wie ein echter, kleiner Held die härtesten Entbehrungen auf sich nehmen. Und immer verschloß er den Schmerz und die angstvolle Verzweiflung, die bei einem Jungen seines Alters durchaus verständlich sind, mit der Kraft und dem Mut eines republikanischen Helden aus alter Zeit in seinem Herzen.
Wo bleibt eure Ehre, ihr Senatoren von Carvetia? Und wo eure Würde? Ihr verdient Wortigerns Tyrannei, es geschieht euch recht, diese Schmach zu erleiden, da in eurer Brust das Herz eines Sklaven schlägt! Dieser Junge hat alles verloren, außer seiner Ehre und seinem Leben. Doch besitzt er die fühlbare Majestät eines wahren Herrschers. Ich habe ihn zu euch gebracht als den letzten Samen eines sterbenden Baumes, damit aus ihm eine neue Welt entstehe, doch finde ich nichts vor als fauligen, unfruchtbaren Boden. Ihr tut gut daran, ihn zurückzuweisen, denn ihr verdient ihn nicht. Nein! Ihr verdient nur Verachtung von jedermann, der Ehre und Glauben in sich trägt!«