Ambrosinus beendete sein von Gram erfülltes Plädoyer unter entgeistertem Schweigen. Auf der bestürzten und verwirrten Versammlung schien das Gewicht von Blei zu lasten. Und dann spuckte Ambrosinus zum Zeichen seiner höchsten Verachtung auf den Boden, faßte Romulus am Arm und verließ empört die Aula, während sich ein paar schwache Stimmen erhoben, um ihn zurückzurufen. Kaum hatten sich die beiden einen Weg durch die Menge gebahnt und waren hinausgegangen, flammte die Diskussion erneut auf und wurde zusehends hitziger. Einer der Anwesenden jedoch eilte durch eine Nebentür, sprang auf einen Wagen und befahl dem Fahrer, sofort loszufahren. »Nach Castra Vetera«, sagte er. »Zu Worti-gerns Burg, rasch!«
Aufgebracht über die erlittene Schmach, trat Ambrosinus auf den Platz hinaus und sprach Romulus Mut zu, sich den Beleidigungen des Schicksals ein weiteres Mal zu stellen, als ihn plötzlich jemand am Arm packte. »Myrdin!«
»Kustennin!« rief seinerseits Ambrosinus aus. »Mein Gott, hast du das gesehen? Was für eine Schande? Warst du auch im Senat?«
Der Mann beugte das Haupt. »Ja, ich sah es. Verstehst du jetzt, warum ich dir sagte, es sei zu spät? Wortigern ist es gelungen, die meisten Senatoren zu korrumpieren. Und heute kann er sich sogar erlauben, den ganzen Senat aufzulösen, ohne auf Widerstand zu treffen.«
Ambrosinus nickte ernst mit dem Kopf. »Ich muß unbedingt mit dir sprechen«, sagte er, »länger, wenn es möglich ist.
Aber jetzt muß ich gehen. Ich kann hier nicht bleiben, sondern muß den mir anvertrauten Jungen wegbringen ... Romulus, komm, gehen wir.« Er suchte ihn mit seinen Blicken, doch Romulus war nicht mehr da.
»O Gott, wo bist du? Wo ist der Junge hin?« rief er angstvoll.
Da trat Egeria zu ihm. »Mach dir keine Sorgen«, sagte die Frau mit einem Lächeln. »Schau, dort unten ist er, auf dem Weg zum Strand. Meine Tochter Ygrainc ist ihm nachgegangen.«
Ambrosinus atmete erleichtert auf.
»Laß sie miteinander reden. Kinder müssen manchmal unter sich sein«, sagte Egeria wieder. »Aber sag mir, ist es wahr, was ich gerade von diesen Leuten aus dem Senat gehört habe? Ich konnte meinen Ohren nicht trauen. Es gibt nicht mehr genügend Anstand und Würde, um die eigene Niedertracht zu verbergen.«
Zustimmend nickte Ambrosinus mit dem Kopf, ohne auch nur für einen Augenblick den Jungen aus den Augen zu lassen, der dort unten an der Küste des Meeres saß.
Schweigend beobachtete Romulus, wie sich die Wellen zwischen den Steinen am Strand brachen, ohne das leidvolle Schluchzen, das ihm aus der Brust drang, unterdrücken zu können.
»Wie heißt du? Und warum weinst du?« fragte eine Mädchenstimme hinter ihm. Eine unbeschwerte, wohlklingende Stimme, doch sie störte ihn in diesem Augenblick. Gleich darauf verspürte er die Berührung einer Hand, die, zart wie ein Schmetterlingsflügel, auf seiner Wange eine angenehme Wärme hinterließ.
Ohne sich umzudrehen, antwortete er, denn für einen Augenblick befürchtete er, die Stimme und die Liebkosung stünden vielleicht im Widerspruch zu dem Gesicht, das er sieh erträumt hatte. »Ich weine, weil ich alles verloren habe: meine Eltern, mein Haus und mein Land. Vielleicht werde ich bald auch noch die letzten Freunde verlieren, die mir geblieben sind, und auch meinen Namen und meine Freiheit. Und ich weine, weil es auf dieser Erde keinen Platz für mich gibt, an dem ich Frieden finde.«
Weise beantwortete das Mädchen diese gewichtigen Worte mit Schweigen, doch sie hörte nicht auf, ihm weiter mit der Hand über Haare und Wangen zu streichen, bis sie bemerkte, daß er sich beruhigt hatte. Da sagte sie: »Ich heiße Ygraine und bin zwölf Jahre alt. Kann ich ein wenig bei dir bleiben?«
Romulus deutete mit einem Nicken seine Zustimmung an, dann trocknete er seine Tränen mit dem Saum seines Ärmels, während sie sich ihm gegenüber auf ihren Fersen im Sand niederließ. Langsam hob er seinen Blick, um zu prüfen, ob ihr Gesicht ebenso sanft war wie ihre Stimme und ihre Liebkosung. Er sah zwei blaue, glänzende Augen und ein Gesicht von anmutiger Schönheit vor sich, das von einem Wasserfall roter Haare eingerahmt wurde, die der Meereswind zerzauste und dadurch von Zeit zu Zeit ihre Stirn und Augen verbarg. Er spürte, wie sein Herz vor Freude erbebte und seine Brust eine Woge des Glücks durchflutete, wie er es noch nie erlebt hatte. Innerhalb eines einzigen Augenblicks wurde er gewahr, wieviel Schönheit, Wärme und Annehmlichkeit ihm das Leben zu bieten vermochte. Gern hätte er ihr all das gesagt, was ihm sein Herz flüsterte, doch vernahm er genau in diesem Moment, wie Ambrosinus und seine Begleiter sich näherten.
»Wo werdet ihr diese Nacht schlafen?« fragte Kustennin.
»In der Festung«, antwortete Ambrosinus.
Besorgt erwiderte Kusteninn: »Paß auf! Deine Rede ist nicht unbemerkt geblieben.«
»Genau das wollte ich erreichen«, entgegnete Ambrosinus trocken. Doch begriff er in seinem Herzen die Bedeutung dieser Worte und fürchtete sich.
»Komm, Ygraine«, sagte Egena. »Es gibt vor dem Abend noch viel zu erledigen.« Schweren Herzens erhob sich das Mädchen und folgte ihrer Mutter, drehte sich aber immer wieder um und warf ihren Blick auf den jungen Fremden, der so anders war als alle Jungen, die sie kannte: Nie zuvor war ihr jemand begegnet, der ein so erschöpftes, blasses Gesicht, solche Vornehmheit in Aussehen und Stimme, soviel Intensität in seinen Worten und schmelzende Melancholie in den Augen besaß. Kustennin verabschiedete sich ebenfalls und brach zusammen mit seiner Familie auf.
Egeria ließ Ygraine vorausgehen und wartete auf ihren Mann, um mit ihm zu sprechen. »Sie sind es, die das Emblem des Drachen auf der alten Festung gehißt haben, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete Kustennin. »Wirklich ein Wahnsinn. Und heute hat Myrdin im Senat verkündet, daß die Legion neu gebildet wird, obwohl sie in Wirklichkeit nur aus sechs oder sieben Personen besteht. Und schließlich offenbarte er den Senatoren die Identität dieses Jungen. Ist dir klar, was das heißt?«
»Ich kann mir die Reaktionen auf diese Enthüllung nicht vorstellen«, erwiderte Egeria, »doch weiß ich, daß dieses Banner große Aufregung und Erwartung schürt. Es heißt, einige seien schon dabei, ihre Waffen wieder auszugraben, die sie vor Jahren versteckten, und nicht wenige junge Männer wollen sich diesen Fremden anschließen. Auch geht das Gerücht von seltsamen Lichtern, die nachts über den Wällen aufblitzen, und von Donnergrollen, das an dem Berg widerhallt. Ich mache mir wirklich Sorgen, da ich befürchte, dieses Trugbild des Friedens und unser beschwerliches Überleben wird erneut von Zusammenstößen, Turbulenzen und Blutvergießen erschüttert werden.«
»Es sind nur ein paar Flüchtlinge, Egeria, ein alter Träumer und Visionär und ein Junge«, antwortete Kustennin. Und er warf noch einen letzten Blick auf seinen Freund, der nach so vielen Jahren wie durch ein Wunder wiederaufgetaucht war.
Der alte Mann und der Junge standen nebeneinander und betrachteten schweigend die Wellen, die sich unter einer Krone weißen Schaums an der Klippe brachen.
Tags darauf hielt gegen Abend der Wagen des Senators vor den Toren von Castra Vetera. Er wurde in Wortigerns Residenz geführt, zunächst aber Wulfila vorgestellt, der mittlerweile das vollständige Vertrauen seines Herrn genoß. Die beiden tuschelten eine Weile miteinander, und ein befriedigtes Grinsen verzog die Gesichtszüge des Barbaren.
»Folge mir«, sagte er. »Du mußt unserem Herrscher persönlich Bericht erstatten, er wird dir dafür mehr als dankbar sein.« Dann führte er ihn in die weiter innen gelegenen Bereiche der Burg. Der alte Mann empfing sie, auf seinem Thron mehr liegend als sitzend; die goldene Maske war das einzige, das in dieser düsteren Atmosphäre ein wenig leuchtete.