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Er brüllte mit aller Kraft, die noch in ihm war, er schrie vor Entsetzen und haßerfüllter Verzweiflung. Dann vernahm er wieder die Stimme, die ihn durch diese Hölle geleitet hatte, und fand sich mit dröhnendem Kopf und schweißnaß wieder, wie er auf dem großen Rundstein lag. Vor ihm stand Ambrosinus, der auf ihn einredete: »Mach weiter ... du mußt weitermachen, bevor sich die Schneise deiner Vergangenheit wieder schließt. Erinnere dich, Aurelianus Ambrosius Ventidius, erinnere dich!«

Aurelius tat einen tiefen Atemzug und setzte sich auf, während er die Hände an seine hämmernden Schläfen hielt. Jedes einzelne Wort kostete ihn schreckliche Anstrengung. »Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen war, als ich wieder zu mir kam. Sie müssen mich für tot gehalten haben ...«

Sein Atem wurde ruhiger. Mit der Linken berührte er die Narbe zwischen Brust und Hals. »Die Klinge, die mir die Halsschlagader durchtrennen sollte, hatte mir nur die Haut unterhalb des Schlüsselbeins zerschnitten ... doch ich bekam unerträglichen Kopfschmerz davon. Durchdringende, stechende Schmerzen, so daß ich mich an nichts mehr erinnern konnte ... Ziellos irrte ich umher, bis ich auf eine Kolonne Flüchtlinge stieß. Sie versuchten, einige Boote aufzutreiben, um in die Lagune zu entkommen. Mein Instinkt befahl mir, ihnen bei ihrem Unternehmen zu helfen. Doch dann strömten auch andere von überall her, die ebenfalls einsteigen wollten, so daß sie die Boote beinahe zum Kentern brachten. So gut es ging, eilte ich ihnen zu Hilfe. Alte, Frauen und Kinder, alle versanken im Schlamm, in einem wüsten Durcheinander aus Weinen und Hilfegeschrei. Und dazwischen die Klagen all derer, die ihre Kinder, Geschwister oder Eltern verloren hatten ...

Noch nicht gesättigt von dem Blutbad in Aquileia, ritten die Barbaren in gestrecktem Galopp aus den Stadttoren hinaus, direkt zum Strand, wo sie mit brennenden Fackeln nach den Überlebenden ihres Massakers suchten, um sie ebenfalls niederzumetzeln. Auf dem letzten Schiff, das völlig überladen war, hatte mir der Bootsführer noch den letzten Platz aufgehoben. Es hatte bereits vom Ufer abgelegt, so daß er mir seine Hand hinstreckte und rief: >Los, beeil dich, steig ein!< Ich wollte schon springen, als ich den Hilferuf einer Frau vernahm. >Wartet!< rief sie. >Wartet, um Gottes willen!< Sie lief auf uns zu, wobei sie fast bis zum Gürtel im Wasser versank, und zog ein kleines Mädchen hinter sich her, das bitterlich weinte. Um ihr beim Einsteigen zu helfen, nahm ich das Kind auf den Arm, damit die Mutter die Hand des Bootsführers ergreifen konnte. Kaum hatte sie Platz genommen, reichte ich ihr die Kleine hinein. Vom Anblick des dunklen Wassers zu Tode erschrocken, wollte sie mich nicht loslassen, obwohl sie die andere Hand nach ihrer Mutter ausstreckte. Und so ... so riß sie mir die Medaille ab, die ich trug ... die Medaille mit dem Adler ... das Ehrenzeichen meiner Abteilung und meiner zerstörten Stadt. Dieses Kind war Livia!«

Ambrosinus half ihm, sich wieder aufzurichten und stützte ihn wie einen Kranken bei den ersten Schritten nach der Genesung. Langsam gingen die beiden Männer wieder zum Lager zurück.

»Ich wurde gefangen«, fuhr Aurelius fort, »und mußte als Sklave dienen, bis mich eines Tages der Angriff der Legio Nova Invicta befreite. Von da an war die Legion mein Zuhause, meine Familie und mein Leben.«

Ambrosinus faßte ihn fest um die Schulter, als versuche er, ihm ein wenig Wärme zu geben. »Du hast das Tor nur aus dem Grund geöffnet, um deine Eltern vor einem entsetzlichen Tod zu bewahren«, sagte er. »Du warst der Held von Aquileia, der die Stadt viele Monate lang verteidigt hat, niemand sonst. Und Wulfila war es, der deine Stadt und deine Eltern getötet hat.«

»Dafür wird er bezahlen«, sagte Aurelius, »bis zum letzten Blutstropfen.« Und während er diese Worte sprach, erstarrten seine Augen zu blankem Eis.

Als sie vor dem Tor des Lagers angekommen waren, klopfte Ambrosinus mit seinem Stab dagegen. Ihnen gegenüber standen Livia und Romulus, der mit ihr zusammen Wache gehalten hatte.

»Hast du gefunden, was du suchtest?« fragte die junge Frau Aurelius.

»Ja«, antwortete er ihr. »Du hast mir die Wahrheit gesagt.«

»Die Liebe lügt niemals. Wußtest du das denn nicht?« Sie schloß ihn in die Arme und küßte ihn auf seinen Mund, die Stirn und auch die Augen, in denen noch immer das blanke Entsetzen stand.

Ambrosinus wandte sich an Romulus. »Komm, mein Junge«, sagte er zu ihm. »Komm mit mir. Du mußt dich noch ein wenig ausruhen.«

Stille senkte sich über das Lager. Jeder blieb für sich allein in dieser ruhigen Frühlingsnacht und wartete darauf, daß die Sonne ihnen ein neues Schicksal enthüllte. Oder vielleicht auch zum letzten Mal auf sie herabschien.

»Laß mich diese Nacht nicht allein«, sagte Livia. »Bitte.«

Aurelius drückte sie an sich und führte sie zu seinem Zufluchtsort in der Kaserne.

Sie standen einander gegenüber, und das Mondlicht, das durch das baufällige Dach drang, beleuchtete Livias ebenmäßiges Gesicht, sein blasser Schein liebkoste ihr Haupt und tauchte es in eine magische Aura aus flüssigem Silber. Vorsichtig löste Aurelius die Bänder an ihrem Gewand und ließ seine Augen über ihre Nacktheit gleiten. Bezaubert von der Schönheit ihres Körpers, betrachtete er sie lange Zeit, bevor er es wagte, sie mit den Händen zu berühren. Langsam und hingebungsvoll begann nun auch sie, ihn in der bebenden Erwartung einer Braut zu entkleiden. Mit leichten Fingern streichelte sie seinen Körper, der im Mondlicht wie Bronze wirkte, glitt über die vielfach Versehrte Landschaft seines Fleisches, auf dem so viele Narben zu sehen waren, und seiner Muskeln, die sich von den vielen blutigen Kämpfen in ständiger Anspannung befanden. Dann ließ sie sich auf sein armseliges Strohlager nieder, auf dem seine raue Soldatendecke lag, und nahm ihn in sich auf. Wie ein wildes Füllen wölbte sie ihm ihre Lenden entgegen, vergrub ihre Nägel in seinen Schultern und suchte immer wieder nach seinem Mund. Bebend vor unerschöpflichem Verlangen, liebten sie sich und versenkten den brennenden Fluß ihres Atems und die heiße Verzückung ihres Fleisches ständig neu ineinander. Schließlich ließen sie erschöpft voneinander ab, und Aurelius legte sich neben sie. Der Duft ihres Haares umhüllte ihn.

»Ich verliebte mich in jener Nacht in dich«, murmelte Livia, »als ich dich zum erstenmal sah. Allein und wehrlos standest du am Ufer der Lagune, wie reglos hast du dein Schicksal erwartet. Damals war ich erst neun Jahre alt ...«

XXXVII

Als sich Aurelius von seinem Lager erhob, war es noch dunkel. Er legte seine Kleider an und ging in den weiten, leeren Hof hinaus. Wie durch ein Wunder tauchten bei seinem Erscheinen auch seine Gefährten aus dem Dunkel auf und gingen auf ihn zu, als hofften sie auf eine Entscheidung von ihm. Auch Ambrosinus trat zu ihnen. Keiner hatte ein Auge zugetan.