»Hie et nunc«, antwortete Aurelius. »Wenn es dir recht ist.«
Romulus warf ihm die Arme um den Hals. »Von ganzem Herzen«, sagte er. »Auch wenn ... ich kaum glaube, daß es mir jemals gelingt, dich Vater zu nennen. Ich habe immer Aurelius zu dir gesagt.«
»Das geht in Ordnung, wie du willst.«
Nun streckte Romulus die rechte Hand aus, und Aurelius steckte ihm den Ring auf den Daumen, nachdem er alle anderen Finger ausprobiert hatte und sie alle zu dünn waren. »Also nehme ich dich, Romulus Augustus Cäsar Aurelianus Arabrosius Ventidius ... Bri-tannicus, als meinen Sohn an! Und so sei es, solange du lebst.«
Und wieder umarmte ihn Romulus. »Danke«, sagte er. »Ich werde dich immer ehren, so wie du es verdienst.«
»Aber ich warne dich«, erwiderte Aurelius. »Ab jetzt mußt du meine Ratschläge befolgen, auch wenn das noch nicht bedeutet, daß du meinen Befehlen gehorchen mußt.«
Romulus wollte gerade antworten, als Demetrios' Stimme vom höchsten Turm erklang. »Sie kommen!«
Aurelius rief: »Alle auf ihre Posten! Romulus, du gehst mit Ambrosinus. Er weiß, was zu tun ist. Nun mach schon, schnell!«
Da erklangen die langgezogenen Töne der Hörner, die gleichen, die er in Dertona am Tag von Mledos Angriff gehört hatte, und auf der Hügellinie im Osten erschien eine lange Reihe gepanzerter Reiter, die im Schrittempo vorrückten. An einem bestimmten Punkt teilten sie sich, um einen hünenhaften Krieger vorreiten zu lassen, dessen Gesicht von einer goldenen Maske bedeckt war. In seinen Händen hielt er ein glänzendes Schwert.
Aurelius gab ein Zeichen. Vatrenus und Demetrios luden die Katapulte und Wurfmaschinen.
»Seht!« schrie Demetrios. »Da kommt jemand.«
»Vielleicht wollen sie verhandeln!« sagte Vatrenus und ging zum Geländer.
Ein Mann zu Pferde, flankiert von zwei bewaffneten Kriegern, ritt näher und hielt als Zeichen des Waffenstillstands ein weißes Tuch in die Höhe, das an einer Querstange befestigt war. Sie verharrten direkt unter der Palisade.
»Was willst du?« fragte Vatrenus.
»Mein Herr Wortigern macht euch folgendes Angebot. Ihr kommt mit dem Leben davon, wenn ihr ihm den jungen Usurpator ausliefert, der von sich behauptet, Romulus Augustus zu sein. Außerdem will er den Deserteur, der ihn beschützt und unter dem Namen Aurelius bekannt ist.«
»Warte einen Moment«, antwortete Vatrenus, »wir müssen uns beraten.« Dann trat er zu Batiatus und flüsterte ihm leise etwas zu.
»Also?« fragte der Bote. »Was soll ich ausrichten?«
»Daß wir einverstanden sind!« antwortete Vatrenus.
»Da habt ihr erst einmal den Jungen!« rief Batiatus. Mit einem großen Bündel im Arm, trat er an die Brustwehr heran, und noch bevor der Barbar die Gelegenheit hatte, etwas zu bemerken, ließ er es auf ihn herabfallen. Es war ein in eine Decke gewickelter Felsbrocken, der ihn genau erwischte und zu Boden schmetterte. Während die beiden anderen flugs ihre Pferde herumrissen und die Flucht ergriffen, brüllte ihnen Batiatus hinterher: »Wartet, der andere kommt auch noch!«
»Das wird sie ganz schön wütend machen«, sagte Aurelius.
»Und macht das etwas aus?« erwiderte Vatrenus.
»Nein, natürlich nicht. Haltet euch bereit, da kommen sie.«
Und wieder erklangen die Hörner, die breite Front der Reiter rückte stetig vor. Als sie etwa eine Viertelmeile vor dem Lager waren, öffnete sich die Front, und acht Männer zu Pferde stürmten den Abhang hinunter und zogen auf Rollen einen Stoßbalken mit eiserner Spitze hinter sich her.
»Er will den Handstreich von Dertona wiederholen!« rief Aurelius. »Macht die Katapulte bereit!«
In rasendem Tempo galoppierten die feindlichen Reiter voran, bis sie das Gelände erreichten, in dem die lilia vergraben lagen. Schon stürzten die beiden vorderen Pferde zu Boden und warfen ihre Reiter ab, die von den im Gras versteckten Eisenspitzen aufgespießt wurden. Der Stoßbalken geriet aus dem Gleichgewicht und drehte nach links ab, doch nahm er dabei immer mehr an Geschwindigkeit zu. Die Räder, die der Last nicht länger standhielten, zersprangen in Stücke, der Balken überschlug sich und rollte den Abhang hinunter, wo er von den Felsen abprallte und schließlich in den See stürzte.
Nun schossen die Katapulte los, und als die Reiter versuchten umzudrehen, wurden vier weitere von ihnen durchbohrt. Auf den Wällen der Festung schrien alle vor Begeisterung, doch erschallten schon wieder die Hörner. Die Reiter waren stehengeblieben, und jetzt rückte eine Welle leichter Infanterie vor.
»Achtung!« schrie Demetrios. »Sie haben Brandpfeile.«
»Bögen!« befahl Aurelius. »Haltet so viele auf, wie ihr könnt!«
Die Infanterie rückte im Laufschritt auf das Lager vor. Bald war jedoch klar, daß es sich dabei um behelfsmäßig bewaffnete Knechte handelte, deren einzige Bestimmung es war, sich niedermetzeln zu lassen, um der schweren Kavallerie den Weg freizumachen. Hinter ihnen hielten die anderen Krieger die Bögen bereit, um jeden zu durchbohren, der zu fliehen versuchte. Als die ersten Soldaten in die lilia hineintraten und schreiend vor Schmerz mit durchbohrten Füßen hinschlugen, teilte sich die Infanterie in zwei Gruppen. Von rechts und von links marschierten sie um das nicht begehbare Gelände herum und schossen dabei in hohem Bogen ihre Brandpfeile ab. Viele von ihnen wurden von den Wurfspießen Livias und ihrer Gefährten durchbohrt, doch konnten sich die anderen hinter die Bäume und Felsen flüchten, von wo aus sie weitere Brandpfeile abschossen, die ihr Ziel auch an verschiedenen Stellen trafen. Das Holz der Palisade, das bereits sehr alt und vollständig ausgetrocknet war, fing sofort Feuer. Nun lief ein neuer Trupp Infanteristen mit Leitern nach vorn, wurde aber von den Bewachern des Wehrgangs mit Pfeilen der Wurfmaschinen und wahren Salven von Wurfspießen zu Boden gezwungen.
Jetzt rückten die Reiter auf ihren Rössern im Schritt vor.
Offenbar warteten sie darauf, daß der brennende Abschnitt der Palisade zusammenbräche, so daß sie in das Innere der Festung einfallen konnten.
Aurelius versammelte seine Soldaten. »Wir haben kein Wasser und auch keine Männer, die den Brand löschen könnten, und in Kürze wird Wulfila seine Männer in die Bresche da vorn hineinjagen. Vatrenus, du und Demetrios, ihr bringt alle zur Strecke, die ihr mit den Wurfmaschinen nur erreichen könnt. Anschließend bleibt uns nichts anderes übrig, als nach draußen durchzubrechen; dort, wo die kleine Esche steht, ist der einzige Durchgang, der frei von den lilia ist. Batiatus, du bist unser Sturmbock. Du brichst in der Mitte durch, und wir anderen folgen dir. Wir werden sie auf das unebene Gelände locken, wo ihnen nichts anderes übrigbleibt, als sich zu zerstreuen und zu Fuß weiterzugehen. Also besteht noch Hoffnung.«
In diesem Augenblick stürzte der brennende Abschnitt der Palisade in einem Wirbel aus Feuer und Rauch zusammen, und die feindliche Kavallerie sprengte im Galopp auf die Bresche zu. Vatrenus und Demetrios rissen die Katapulte und Wurfmaschinen auf ihren Plattformen herum und schossen eine Salve Wurfspieße ab, die ein halbes Dutzend Reiter niedermähten, wodurch wieder andere zu Fall gebracht wurden. Noch eine zweite Salve traf in die Menge und richtete ein Blutbad an, ihnen folgten die Bogenpfeile und schließlich die Speere: zuerst die leichten mit der längeren Reichweite, dann die schweren für kurze Entfernungen. Das gesamte Gelände war mit toten Soldaten übersät, doch rückten die Feinde immer weiter vor, davon überzeugt, bald den entscheidenden Schlag ausführen zu können.
»Alle hinaus«, rief da Aurelius, »durch das Südtor hinaus. Wir gehen seitlich an ihnen vorbei! Ambrosinus, bring den Jungen in Sicherheit.«
Kopf und Gesicht von einem Helm mit Visier geschützt, saß unten Batiatus bereits in seiner Rüstung im Sattel des riesigen Armorica-Hengstes, den ebenfalls Metallplatten schützten, und schwang seine Streitaxt; er war nicht bloß ein Mann auf seinem Pferd, er war eine Kriegsmaschine. Wenig später hatten sich hinter ihm auch die übrigen Gefährten auf ihren Reittieren pfeilförmig gruppiert. »Jetzt!« schrie Aurelius. »Alle hinaus!« Und das Tor öffnete sich weit, während die ersten feindlichen Reiter bereits fast die Bresche erreicht hatten. Batiatus gab seinem Pferd die Sporen, stürzte im Galopp auf das offene Gelände hinaus und steuerte auf den freien Durchgang zu. Seine Freunde ritten hinter ihm her.