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»Ich weiß nicht, wer es war«, lautete die ruhige Antwort. »Ich habe ihn nie zuvor gesehen.«

»Mach dich ja nicht über mich lustig! Niemand würde sich auf ein solches Unternehmen einlassen ohne eine vorherige Übereinkunft. Du hast gewußt, daß er handeln würde, und vielleicht weißt du auch, wo er sich jetzt befindet. Du wirst es mir sagen! Ich habe die Mittel, dich zum Sprechen zu bringen, wenn ich will.«

»Das bezweifele ich nicht«, antwortete Ambrosinus, »aber nicht einmal du kannst mich dazu bringen, etwas zu sagen, was ich nicht weiß. Du brauchst doch nur die Männer der Eskorte zu fragen: Von dem Augenblick an, da wir die Villa verließen, ist niemand mit uns in Kontakt gekommen außer deinen Barbaren. In dem ganzen Haufen, den du mit dem Massaker beauftragt hast, befand sich kein einziger Römer, und keiner von Orestes' Leuten ist dem Gemetzel entkommen, das weißt du ganz genau. Außerdem habe ich selbst verhindert, daß dieser Mann den letzten Versuch, den Jungen fortzubringen, zu Ende führt.«

»Weil du ihn keinen weiteren Gefahren aussetzen wolltest.«

»Sehr richtig! Und weil ich bei einem derartigen Manöver niemals mitgemacht hätte! Ein verzweifeltes Unterfangen, eine von vornherein verlorene Schlacht. Und der Preis war in der Tat fürchterlich. Gewiß, es war nicht seine Absicht, aber leider ist dies der Preis gewesen: Meine Herrin, die Mutter des Kaisers, wäre ohne diese unbesonnene Tat noch am Leben. Ich hätte einen solchen Wahnsinn niemals gebilligt, und zwar aus einem ganz einfachen Grund ...«

»Und dieser Grund wäre ... ?«

»Ich verabscheue Mißerfolge. Sicher, er ist ein sehr mutiger Mann, und dein Wachhund hier wird sich noch eine Zeitlang an ihn erinnern: Er hat ihm ja das Gesicht von einer Seite zu anderen aufgeschlitzt. Ich verstehe, daß er sich rächen will, aber ich kann euch nicht helfen, und wenn du mich auch in Stücke schneidest - aus mir bekommst du nicht mehr heraus als das, was ich schon gesagt habe.«

Er sprach mit einer solchen Ruhe und Sicherheit, daß Odoaker beeindruckt war. Ein Mann von diesem Kaliber könnte ihm nützlich sein, ein Mann mit Verstand und großer Weisheit, der ihn in den Wirrungen der Politik und der Hofintrigen, in die er schon bald hineingezogen werden würde, beraten könnte. Aber der Ton, in dem er die Worte »meine Herrin, die Mutter des Kaisers« ausgesprochen hatte, ließ keinen Zweifel an seinen Überzeugungen und daran, wem seine Treue galt.

»Was hast du mit dem Knaben vor?« fragte ihn jetzt Ambrosinus.

»Das geht dich nichts an«, entgegnete Odoaker.

»Verschone ihn! Er kann dir in keiner Weise schaden. Ich weiß nicht, warum dieser Mann versucht hat, ihn zu befreien, aber für dich kann das kein Grund zur Beunruhigung sein. Er war allein. Wenn es sich um ein Komplott gehandelt hätte, wären ein anderer Zeitpunkt und ein anderer Ort gewählt worden, glaubst du nicht auch? Wenn es mehrere Leute gewesen wären, hätten sie am Weg entlang Helfer postiert und den Fluchtweg abgesichert. Ich dagegen mußte ihm noch erklären, von wo aus wir hätten fliehen können.«

Odoaker überraschte dieses freiwillige Geständnis und zugleich auch die zwingende Logik seiner Worte. »Aber wie hat er es dann geschafft, bis zu euren Gemächern vorzudringen?«

»Das weiß ich nicht, aber ich kann es mir vorstellen.«

»Sprich!«

»Dieser Mann kennt eure Sprache.«

»Wie kannst du da so sicher sein?«

»Weil ich gehört habe, wie er mit deinen Kriegern sprach«, erwiderte Ambrosinus.

»Und von wo aus sind sie hinausgegangen?« beharrte Odoaker.

Tatsächlich hatte sich keiner seiner Leute erklären können, wie es möglich war, Romulus und Aurelius außerhalb des Palastes anzutreffen, da doch sämtliche Fluchtwege abgeriegelt waren.

»Das weiß ich nicht, weil wir durch den Angriff deiner Wachen getrennt worden sind. Aber der Junge war ganz naß und verströmte einen entsetzlichen Geruch. Ein Abwasserkanal, würde ich sagen. Aber was hat es für einen Zweck nachzuforschen? Du wirst dich doch nicht vor einem Knaben fürchten, der kaum dreizehn Jahre alt ist! Zudem war dieser Mann allein, allein, sage ich dir, und er ist schwer verwundet worden. In dieser Stunde könnte er schon tot sein. Verschone den Jungen, ich beschwöre dich. Er ist fast noch ein Kind: Was könnte er dir schon Böses antun?«

Odoaker blickte ihm starr in die Augen und verspürte eine plötzliche Unruhe - so, als habe ihn ein unerklärliches Gefühl der Unsicherheit erfüllt. Er senkte den Blick, als würde er nachdenken, dann sagte er: »Geh jetzt. Meine Entscheidung wird nicht lange auf sich warten lassen. Hofft bloß nicht, daß der Vorfall von heute nacht sich wiederholen könnte.«

»Wie sollte er das?« antwortete Ambrosinus. »Ein alter Mann und ein Junge, von Dutzenden Kriegern bewacht ... Aber wenn ich dir einen Rat geben darf ...«

Odoaker wollte sich nicht so weit demütigen, ihn darum zu bitten, aber im Grunde seines Herzens war er neugierig zu hören, was dieser Mann sagen würde, der imstande war, ihn allein mit einem Blick aus der Fassung zu bringen. Ambrosinus verstand und fuhr fort: »Wenn du den Jungen umbringst, begehst du einen schwerwiegenden Akt der Willkür, und deine Macht wird niemals vom Kaiser des Ostens anerkannt werden, der auch in Italien viele Anhänger, viele Spitzel und auch viele Soldaten hat. Wohl kann ein Römer einem anderen Römer die Macht entziehen, aber nicht...«, und er zögerte einen Augenblick, ehe er das Wort aussprach, »... nicht ein Barbar.

Selbst der große Rikimer, dein Vorgänger, hat sich, um zu regieren, immer hinter blassen Kaisergestalten versteckt. Also verschone den Knaben, und du wirst als hochherzig und großzügig gelten. Es wird dir die Sympathien des christlichen Klerus sichern, der sehr mächtig ist, und der Kaiser des Ostens wird so tun, als sei nichts geschehen. Für ihn spielt es keine Rolle, wer im Westen das Sagen hat, weil er ohnehin nichts am Stand der Dinge ändern kann, aber von grundlegender Bedeutung ist es für ihn, daß die Form, daß der Schein gewahrt wird. Erinnere dich an das, was ich gesagt habe: Wahre den Schein, und du wirst die Macht in diesem Land behalten, solange du lebst.«

»Den Schein?« wiederholte Odoaker.

»Hör zu. Vor fünfundzwanzig Jahren verlangte Attila von Kaiser Valentinianus III. einen Tribut, und diesem blieb keine andere Wahl als zu zahlen. Aber weißt du, wie? Er ernannte Attila zum General des Reiches und zahlte ihm den Tribut in Form eines Gehalts. Im Grunde war der Kaiser der Römer einem Barbarenführer tributpflichtig, aber der Schein wurde aufrechterhalten und damit die Ehre gerettet. Romulus zu töten wäre eine überflüssige Grausamkeit und politisch ein ungeheurer Fehler. Du bist jetzt ein Mann der Macht. Es ist an der Zeit, daß du auch lernst, wie man damit umgeht.« Mit einer leichten Kopfbewegung wandte er sich um, und Odoaker dachte nicht daran, ihn zurückzuhalten.

Ambrosinus ging hinaus, und fast im selben Augenblick öffnete sich eine Seitentür des Arbeitszimmers, und Wulfila erschien. »Du mußt ihn aus dem Weg räumen, und zwar sofort«, zischte er durch die Zähne, »sonst werden sich Vorfälle wie der von heute nacht ständig wiederholen.«

Odoaker betrachtete ihn, und plötzlich kam ihm dieser Mann, der in der Vergangenheit auf seinen Befehl hin jede Art von Schädlichkeiten begangen hatte, fern und beinahe wie ein völlig Fremder vor - wie ein Barbar, mit dem er, wie er fühlte, nichts mehr gemein hatte.

»Du kennst nur Blut und Gemetzel«, antwortete er ihm. »Ich aber will regieren, verstehst du? Ich will, daß meine Untertanen sich ihren Geschäften und Beschäftigungen widmen und keinen Komplotten und Verschwörungen. Ich werde also die Entscheidung treffen, die mir am richtigsten erscheint.«

»Du hast dich vom Gejammer dieses Schoßkindes erweichen und dir vom Geschwätz dieses Scharlatans den Kopf verdrehen lassen. Wenn du dich außerstande fühlst, dann kümmere ich mich um sie.«