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V

Das Bild kristallisierte sich nur langsam heraus. Zunächst war es bloß ein vages Schimmern, ein grünlicher Widerschein, dann nahm es im schwachen Licht der Morgensonne immer deutlichere und klarere Konturen an: ein großes Becken voller Wasser, eine Steinmaske in Form eines Satyrgesichts mit geöffnetem Mund, aus dem gluckernd ein Bächlein in das große Bassin rann. Oben krümmte sich ein mit Tropfen bedecktes Gewölbe, von dem ganze Büschel von Venushaar herabhingen; dort oben drang durch breite Risse das Tageslicht ein und malte seltsame Effekte an die Wände und auf die Oberfläche des Wassers. Rund um das Becken standen Sockel mit den Überresten verstümmelter Statuen. Ein altes verlassenes Nymphäum.

Aurelius machte Anstalten, sich aufzusetzen, aber diese plötzliche Bewegung entlockte ihm nur einen Schmerzensschrei. Erschrocken hüpften einige Frösche in das stehende Wasser.

»Immer mit der Ruhe«, ertönte eine Stimme hinter ihm, »du hast ein ganz schönes Loch in der Schulter, das könnte wieder aufgehen.«

Aurelius wandte sich um, und schlagartig kehrten die Szenen seiner Flucht in die Lagune in sein Gedächtnis zurück - das Bild von dem verängstigten Knaben, das Gesicht dieser stolzen Frau, das im Tod erbleichte - und der Stich, den er in seinem Herzen fühlte, war heftiger und qualvoller als seine körperlichen Schmerzen. Vor ihm stand ein Mann von etwa sechzig Jahren mit runzeliger, vom Salz verdorrter Haut; er trug eine Tunika aus grober Wolle, die ihm bis zu den Knien reichte, und seinen kahlen Kopf hielt er mit einer Mütze, die ebenfalls aus Wolle war, bedeckt.

»Wer bist du?« fragte er ihn.

»Ich bin der, der dich wieder in Ordnung gebracht hat. Ich heiße Justinus und war einmal ein angesehener Arzt. Ich habe dich mit einem Faden, wie er für die Fischernetze verwendet wird, zusammengeflickt, so gut es eben ging, und dich mit Essig gewaschen. Aber du warst wirklich sehr übel zugerichtet und überall mit Blut beschmiert. Du mußt in der Lagune eine ganze Menge davon verloren haben, während man dich mit dem Boot hierher schaffte.«

»Ich danke dir ...«, hob Aurelius an, doch in diesem Augenblick hörte er Schritte aus dem hinteren Teil des großen Gebäudes herannahen. Er drehte sich um und sah ein Mädchen, das wie ein Mann gekleidet war, mit einer Hose und einem Kittel aus Hirschleder, und kurzgeschnittene Haare hatte. Über der Schulter trug sie einen Bogen und am Gürtel einen Köcher.

»Bei ihr mußt du dich bedanken«, sagte der Mann und zeigte auf sie. »Sie ist es, die dir das Leben gerettet hat.« Dann hob er seinen Quersack auf und die Zinnschüssel, in der er ihm die Wunde ausgewaschen hatte, verabschiedete sich mit einem leichten Kopfnicken und ging.

Aurelius betrachtete seine gerötete Schulter, deren Schwellung sich bis zur Brust und zum Ellenbogen hinunter ausgebreitet hatte. Sein Kopf schmerzte, und in seinen Schläfen hämmerte es. Er ließ sich auf die Strohmatte zurücksinken, auf die er gebettet war, während das Mädchen näher trat und sich neben ihn auf den Boden setzte.

»Wer bist du?« fragte Aurelius. »Wieviel Zeit ist vergangen?«

»Zwei Tage.«

»Ich habe also zwei Tage und zwei Nächte durchgeschlafen?«

»Sagen wir lieber, daß du zwei Tage und zwei Nächte bewußtlos warst. Justinus hat mir erzählt, daß du sehr hohes Fieber hattest und phantasiert hast. Du hast seltsames Zeug zusammengeredet ...«

»Und du hast mir das Leben gerettet. Ich danke dir.«

»Ihr wart fünf gegen einen. Ich habe es für richtig gehalten, die Kräfteverhältnisse wieder auszugleichen.«

»Eine unglaubliche Zielgenauigkeit, nachts, bei diesem Nebel ...«

»Der Bogen ist die ideale Waffe in dieser so unbeständigen und flüchtigen Umgebung.«

»Und mein Pferd?«

»Sie haben es wohl mitgenommen. Oder verspeist. Es sind schwere Zeiten.«

Aurelius suchte ihren Blick, aber sie wich ihm aus.

»Hast du Wasser? Ich vergehe vor Durst.«

Das Mädchen schenkte ihm aus einem Tonkrug ein.

»Wohnst du in dieser Gegend?«

»Dies ist einer meiner Zufluchtsorte: Eine schöne Anlage - findest du nicht? Groß, weitläufig, gut geschützt. Aber ich habe noch andere ...«

»Ich wollte sagen: Lebst du in der Lagune?«

»Seit meiner Kindheit.«

»Wie heißt du?«

»Livia. Livia Prisca. Und du, wer bist du?«

»Aurelianus Ambrosius Ventidius, aber meine Freunde nennen mich Aurelius, und so kannst auch du mich nennen.«

»Hast du eine Familie?«

»Ich habe niemanden. Und ich kann mich auch nicht erinnern, jemals irgend jemanden gehabt zu haben.«

»Das ist unmöglich! Du hast einen Namen, und dieser Ring, den du da trägst, ist das vielleicht nicht der Ring einer Familie?«

»Das weiß ich nicht. Jemand könnte ihn mir geschenkt haben, oder ich könnte ihn auch gestohlen haben. Wer kann das schon sagen?

Meine einzige Familie ist immer das Militär gewesen, die Kameraden meiner Abteilung. Was davor war - daran erinnere ich mich nicht.«

Das Mädchen schien diesen Worten kein Gewicht beizumessen. Vielleicht hatten das Fieber und die Schmerzen diesem Mann den Kopf verwirrt. Oder vielleicht wollte er sich einfach nicht erinnern. Sie fragte ihn: »Und deine Kameraden, wo sind die jetzt?«

Aurelius seufzte. »Ich weiß es nicht. Aber wahrscheinlich sind sie alle tot. Es waren außergewöhnliche Kämpfer, die besten - die Legionäre der Nova Invicta.«

»Hast du Nova Invicta gesagt? Ich habe nicht geglaubt, daß es die tatsächlich gibt! Die Legionen gehören der Vergangenheit an, jener Zeit, als die Männer noch auf offenem Feld und in geschlossener Formation aufeinandertrafen: Fußsoldat gegen Fußsoldat, Reiter gegen Reiter ... Du bist jedenfalls davongekommen. Es ist seltsam ... In der Stadt geht das Gerücht um, daß irgendein entlaufener Verbrecher versucht hat, den Kaiser zu entführen. Derjenige, der hilft, ihn einzufangen, wird ein hübsches Sümmchen bekommen.«

»Und das möchtest du dir verdienen, oder?«

»Wenn ich das gewollt hätte, hätte ich es schon gemacht, glaubst du nicht? Du wärst in einem Gefängnis aufgewacht oder unter einem Galgen, oder du wärst während des Transports hierher gestorben. Dann hätten wir uns nicht einmal kennengelernt.«

Ihre Worte klangen leicht ironisch. Sie hatte angefangen, mit einem Fischernetz herumzuhantieren, und schien dem Blick ihres Gastes ausweichen zu wollen. Es war nicht klar, ob dies Ausdruck des ungehobelten Benehmens eines wild aufgewachsenen Mädchens war oder einfach nur aus Scheu geschah. Aurelius schwieg eine Weile und tat, als lausche er den Rufen der Sumpfvögel, die sich auf ihre Wanderschaft vorbereiteten, und dem monotonen Gluckern des Wassers in dem grünen Becken. Er erinnerte sich an seine Kameraden, die so tief in einer Flut von Feinden versunken waren, daß er sie nicht hatte retten und ihnen nicht hatte helfen können. Er stellte sich ihre unbeerdigten, mit Wunden übersäten Leichen vor -Beute streunender Hunde und wilder Tiere. Vatrenus, Batiatus, Antonius, der Kommandant Claudianus ... Es zog ihm das Herz zusammen, und die Tränen stiegen ihm in die Augen.

»Denk nicht daran«, sagte das Mädchen, als würde sie sein Gesicht betrachten. »Die Überlebenden eines Massakers haben immer das Gefühl, schuldig zu sein. Manchmal für den Rest ihrer Tage. Schuldig, weil sie leben.«

Aurelius antwortete nicht, und als er wieder zu sprechen anhob, versuchte er, das Thema zu wechseln. »Aber wie kannst du nur an einem solchen Ort leben? Ein Mädchen allein in einem solchen Sumpfgebiet?«

»Wir sind gezwungen, wie Barbaren zu leben, um als Römer weiterleben zu können«, erwiderte Livia mit leiser Stimme, als führe sie ein Selbstgespräch.

»Du kennst ja die Schriften des Salvianus!«

»Du auch, wie ich sehe.«